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Name ist Luzine Mussegh, gebürtig aus dem Dorfe Khnussaberd. Sie wurde im Jahre 1878 geboren und schon im zarten Alter in die armenische Missionsschule zu Erzerum geschickt, wo sie im evangelischen Glauben unterwiesen wurde. Die armenischen Mädchen leben in beständiger Gefahr, von Türken und Kurden geraubt zu werden, und armenische Eltern müssen fort und fort auf Mittel sinnen, sie vor diesem Unglück zu behüten. Die Mittel welche gewöhnlich angewendet werden, sind sehr frühe Heiraten oder Versuche, die Mädchen als Knaben zu verkleiden. Ich weiß von Kindern, die aus der Schule genommen und verheiratet werden, die dann einige Monate lang mit ihren Männern oder Frauen leben und dann wieder zur Schule gehen. So wurde Luzine im Alter von 14 Jahren aus der Schule genommen, mit einem Knaben in ihrem Alter, Namens Milikean, verheiratet; sie lebte einige Zeit mit ihm unter ihres Vaters Dach und ging dann wieder zur Schule. In einer Nacht, als ihr Mann zufällig nicht zu Hause war, wurde sie von einigen Männern überfallen, an den Haaren geschleift, geknebelt und nach dem Hause des Hussni Bey geschleppt. Dieser Mann war der Sohn des Gouverneurs. Er entehrte die junge Frau und schickte sie am nächsten Tage heim, aber ihr Mann weigerte sich, sie wieder aufzunehmen, und jetzt steht sie einsam und verlassen in der Welt da. Luzinens Vater reichte eine Klage bei dem Obersten der Hamidijeh ein und eine Petition bei dem Ortspriester. Der Erzbischof von Erzerum nahm die Sache in die Hand und wandte sich an den General-Gouverneur der Provinz und an den Gerichtshof von Khnuß. Alles umsonst. Luzine ist und bleibt eine Pariah. Ich habe auch von einigen 100 armenischen Frauen aus dem Distrikte von Khnuß einen rührenden Apell, der an die Frauen von England gerichtet ist, erhalten, in welchem die Armenierinnen darum bitten, daß man sie um Gotteswillen vor der brutalen Behandlung beschützen möge, der sie alle ausgesetzt seien. Es ist nicht nötig, denselben hier zu veröffentlichen, gedruckte Aufrufe machen selten großen Eindruck. Wenn aber die Leser die unglücklichen Frauen selbst gesehen hätten, wie ich sie sah, wenn sie gehört hätten, wie sie ihre ergreifende Geschichte erzählten, in den einfachsten Worten, mit Seufzen und Stöhnen untermischt, durch ihr herzzerreißendes Elend veranschaulicht, dann würden sie sich einen Begriff von der Lage der Dinge in Armenien

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/196&oldid=- (Version vom 31.7.2018)