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Regierung nur zu gelegen kamen. Da sie nach der öffentlichen Erklärung des Sultans schon längst von dem geplanten Angriff auf die ottomanische Bank wußte, that sie nicht nur nichts, um ihn zu verhindern, sondern bereitete vielmehr alles für das beabsichtigte Massacre vor.

„In Stambul, Galata und Pera bildete man Räuberbanden aus Kurden und Türken, die mit Knütteln, Messern oder Feuerwaffen ausgerüstet wurden; man traf Vorkehrungen, daß keiner in dem Viertel, in dem er wohnte, morden oder plündern sollte, um nicht erkannt und dann bei den Gesandten verklagt werden zu können. Eine Menge Karren stand bereit, um die Toten fortzuschaffen. Militär und Polizei war zahlreich aufgeboten, um jeden Widerstand zu verhindern und den Pöbel, wenn notwendig, zu unterstützen. Es war ein schöner Tag, die Straßen voller Menschen, kaum einer mit dem, was in der Bank geschehen war, bekannt. Da begann plötzlich, ohne ein Warnungssignal, das Schlachten und Plündern überall zugleich. Europäische Damen, die nach den Dampfern am Bosporus gehen wollten, sahen sich plötzlich von Mördern umringt und Verwundete zu ihren Füßen sich wälzen. Fremde Kaufleute fanden vor ihrer Thür ihre Angestellten in Stücke gehauen. An einigen Stellen strömten die Straßen buchstäblich von Blut; jeder, der als Armenier erkannt wurde, ward erbarmungslos niedergemacht.

„Die Zahl der Ermordeten wird nie bekannt werden. Die Gesandten schätzen sie auf 5–6000, der offizielle Bericht für den Palast auf 8750, ungerechnet die ins Meer geworfenen. Tausende von Häusern, Läden und Geschäften wurden geplündert, darunter mehrere, die Griechen und Ausländern gehörten. Alles geschah nach einem bestimmten System, keinen Augenblick herrschte Anarchie, keinen Augenblick verlor das Militär und die Polizei die vollständige Gewalt über die Stadt.

„Mehrfach wandten sich europäische Beamte an die die Truppen befehligenden Offiziere, die ruhig zusahen, wie die hilflosen, unbewaffneten Menschen ermordet wurden, mit der Bitte, einzuschreiten und Einhalt zu gebieten. Die Antwort war: wir haben unsere Ordre. Ein Offizier tötete den Sekretär der britischen Postanstalt vor deren Thüren. Noch mehrere der entsetzlichen Blutthaten geschahen angesichts der Wache am asiatischen Ende der Brücke, vor den Augen

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Leipzig 1897, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/257&oldid=- (Version vom 31.7.2018)