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mehrerer hochgestellter Kaiserlicher Hofbeamter. Sie hatten auch ihre Ordre.

„Nicht das Volk, auch nicht der Pöbel ist für dieses furchtbare Verbrechen verantwortlich; die Regierung hat es geplant und begangen. Das haben die Gesandten der sechs Mächte in ihrer gemeinsamen Note an die Pforte als eine unzweifelhafte Thatsache bezeichnet.

„Dieselbe Regierung unternimmt seit dem Massacre einen Feldzug gegen die Armenier, der kaum weniger unmenschlich ist, als das Totschlagen mit Knütteln. Früher lebten 150–200  000 Armenier in Konstantinopel, als Kaufleute, Ladenbesitzer, Sekretäre, Beamte in Banken und Komtors aller Art – kurz als die Hauptgeschäftsleute der Stadt. Sie waren die Bäcker; sie waren die Portiers, Diener und Handarbeiter. Tausende von ihnen stammten aus dem Innern, aus den Provinzen, die während der beiden letzten Jahre verwüstet worden waren, und suchten in Konstantinopel Geld zu verdienen, um ihre Steuern zu bezahlen und ihre Familien zu erhalten. Mit diesem Gelde haben sich Zehntausende von Familien am Leben erhalten; jetzt hat die Regierung diese ganze Bevölkerungsschicht zu ruinieren beschlossen. Man hetzt sie in der Stadt und in den Bergen wie wilde Tiere. Jeden Tag werden ganze Haufen eingeliefert, zerrissen, hungrig, die äußerste Verzweiflung auf dem Angesicht. Die Banken, die Kommission zur Tilgung der Staatsschulden, die Regie und alle öffentlichen Gesellschaften sind ersucht worden, ihre armenischen Angestellten zu entlassen.

„Aber nicht nur die Armenier, die ganze Stadt wird ruiniert. Es giebt niemand, der an ihre Stelle treten könnte. Aber nicht nur dies. Die Grundfesten der Gesellschaft sind erschüttert. Der Sultan schien keine Ahnung davon zu haben, daß er selbst sein Reich ruiniert. Im Gegenteil, er glaubt und sagte seinen Ministern noch vor zwei Jahren, er sei der weiseste und mächtigste Herrscher der Welt. Jede Wendung zum Bessern ist unmöglich, so lange die Großmächte bei ihrer gegenwärtigen Stellung verharren und sich des bewaffneten Einschreitens enthalten. Unterdeß wird das Zerstörungswerk fortdauern, die Anarchie zunehmen und die Armee ergreifen. Neue Massacres werden stattfinden, auch an anderen Nationalitäten, bis der Ruin der Stadt vollkommen ist. Ich glaube, es giebt keinen Gesandten in Konstantinopel, der nicht dieser Meinung wäre. Keiner, der irgend etwas

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Leipzig 1897, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/258&oldid=- (Version vom 31.7.2018)