Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/29

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Ein schrankenloser Spielraum für die mordluslige Phantasie des Pöbels eröffnete sich aufs neue, als es sich darum handelte, was mit den Leichen der Tausenden von Erschlagenen anzufangen sei. Daß hier kein Schamgefühl, kein Schrecken vor der Majestät des Todes jedem schändlichen Beginnen in den Weg trat, braucht nicht gesagt zu werden. Doch verdient es in den Annalen der Geschichte verzeichnet zu werden, daß in allen Städten und Dörfern die Christenleichen nackt ausgezogen, aufs scheußlichste entstellt und cynisch verstümmelt in Bergen auf den Straßen, auf Misthaufen, in den Brunnen oder Senkgruben aufgeschüttet lagen, bis man die Esel und Juden requirierte, um die Leichen wie das Aas gefallener Tiere vor die Stadt zu schaffen. Niemand vermochte unter den aufgetürmten und verstümmelten Massen von Menschenfleisch die Seinen wiederzuerkennen. Wo man es nicht vorzog, die Leichen für den Fraß der Hunde liegen zu lassen oder mit dem beliebten Petroleum ein Autodafé zu veranstalten, war bald eine Grube ausgeworfen und die Masse von Kadavern hineingescharrt.

Doch Männern von Bedeutung wurden besondere Funerarien zuteil. Dem Priester Mattheos zu Busseyid wurde sein abgeschlagenes Haupt zwischen die Schenkel gelegt, und die jungen Türken des Ortes amüsierten sich, seinen Leichnam mit Ruten zu züchtigen. – Dem Priester Der-Harudiun zu Diarbekir und seinem Kollegen an der Kirche zu Alipunar, sowie zehn andern Priestern des Distrikts von Tadem wurde die Ehre zuteil, daß man ihren Leichen die Haut abzog. Dem Abt Sahag, Prior des Klosters Surp-Katsch im Distrikt Kizan, wurde mit seinem jungen Adlatus ein besonderes Denkmal errichtet, indem man ihre abgezogene Haut mit Stroh ausstopfte und an den Bäumen aufhing. Der Phantasie eines Nero ist es würdig, wenn die Türken von Arabkir die abgeschlagenen Köpfe der Armenier an langen Stangen aufreihten; und der Gendarmerie-Kommandant von Baiburt, der am 26. Oktober den Frauen des Dorfes Ksanta unter dem Versprechen, ihre Männer zu schützen, Geld und Schmucksachen im Wert von 500 türk. Pfd. abnahm und sich dann nach etlichen Tagen eines anderen besann, sämtliche Frauen und Kinder desselben Dorfes auf einem Felde versammelte und unbarmherzig abschlachten ließ, hätte es wohl verdient zum Chef der Leibgarde des Tamerlan ernannt zu werden.

Die Einwohner von zwölf Dörfern im Norden und Westen von Marasch hatten sich beim Beginn der Unruhen nach dem Flecken Turnus

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/29&oldid=- (Version vom 31.7.2018)