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der Türkei ihre Kenntnisse und Erfahrungen mit den apodiktischen Behauptungen obiger Ausführungen in Einklang zu bringen. Wir beschränken uns auf Armenien, und da müssen wir in der That zustimmen, daß es das Unklügste nicht nur wäre, sondern war, was die Pforte thun konnte, als sie eine Verfolgung des Christentums in Szene setzte. Denn die christlichen Unterthanen Sr. Majestät des Sultans machen numerisch ein volles Drittel und, gewogen, nicht gezählt, an Intelligenz, Bildung, wirtschaftlicher Tüchtigkeit und moralischer Energie zwei Dritteile der Gesamtbevölkerung des türkischen Reiches aus. Es ist einem Publizisten, der die Bewegungen der Weltgeschichte nur in einem oberflächlichen Kausalnexus politischer Tagesereignisse zu sehen gewohnt ist, und die religiösen und sittlichen Mächte nicht nur als Imponderabilien, sondern als quantité négligeable zu behandeln gewohnt ist, nicht zu verargen, wenn er nichts davon weiß, daß die Zersetzung des osmanischen Reiches und die „mannigfachen Schwierigkeiten ihrer Lage“ auf allen Punkten auf den Gegensatz des Islam und des Christentums und auf die Thatsache zurückzuführen ist, daß das Religionsgesetz des Islam, welches in den letzten Jahrzehnten mehr denn je die Richtschnur der ottomanischen Politik war, eine bürgerliche Gleichberechtigung der muhammedanischen und christlichen Unterthanen nicht gestattet, und daß alle dahin gehenden Zugeständnisse der Pforte nur „im Prinzip“, d. h. auf dem Papier gewährt werden können. Vielleicht könnte das Studium der Schriften Moltkes in dieser Beziehung auch heute noch gute Dienste leisten.

Was sind denn die armenischen Massacres? Ein Rassenkampf? Nein. – Denn Jahrhunderte lang sind die Türken wohl oder übel mit ihren armenischen Unterthanen ausgekommen. Eine nationale Erhebung? Nein. – Denn das armenische Volk in Armenien weiß nichts und will nichts wissen von der politischen Propaganda einiger Schwärmer, die in London, Paris oder Konstantinopel revolutionäre Klubs bilden und politische Pamphlete herausgeben. Eine Christenverfolgung? Nicht ohne weiteres. – Denn es lag keine unmittelbare Veranlassung vor. Doch was sind die armenischen Greuel? Ohne Frage: ihrem Ursprunge nach ein rein politisches Ereignis; genauer gesagt eine administrative Maßregel. Aber die Thatsachen beweisen es, daß bei dem Charakter des muhammedanischen Volkes, der auch in den politischen Leidenschaften nur religiösen Motiven zugänglich ist, diese administrative Maßregel die Form einer Christenverfolgung von

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/35&oldid=- (Version vom 29.9.2019)