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riesigem Maßstabe annehmen mußte und angenommen hat. Soll uns etwa wegen des politischen Ursprungs dieser Religionsverfolgung verboten sein, „von den um ihres Christenglaubens willen verfolgten Armeniern zu reden?“ Dann hat es nie in der Welt Religionsverfolgungen gegeben, denn alle ohne Ausnahme standen mit politischen Bewegungen in Wechselwirkung, und selbst der Tod Christi wäre nichts als ein politisches Ereignis, weil politische Motive bei seiner Verurteilung den Ausschlag gaben.

Vielleicht genügen aber die folgenden, von der deutschen Presse bisher überhaupt nicht gewürdigten Thatsachen, die ganze armenische Frage in ein anderes Licht zu rücken.

Schon der Botschafter-Bericht konnte konstatieren, daß in etwa 20 Städten und Dörfern, darunter die großen Städte Bitlis, Charput, Eghin, Malatia, Cäsarea und Urfa, Massenübertritte der Christen zum Islam stattfanden, und daß überall die Androhung neuer Massacres der Beweggrund für diese Konversionen war. Der ungeheure Umfang aber der Zwangsbekehrungen, denen auf dem ganzen Gebiete der Massacres die Ueberlebenden in Hunderten von Städten und Dörfern unterlegen sind und noch täglich unterliegen, kann erst jetzt, nachdem wir aus allen Gebieten Berichte vor uns haben, annähernd festgestellt werden. Die Zahl derer, welche in den letzten zehn Monaten unter dem Terrorismus des muhammedanischen Pöbels, unter den Aufreizungen des moslemischen Klerus, unter der offenen oder versteckten Beihilfe der Regierungs-Behörden zwangsweise konvertiert worden sind, wird das erste Hunderttausend schon überschritten haben und wird das zweite Hunderttausend erreichen, wenn durch die ohnmächtige Politik der christlichen Großmächte der muhammedanische Fanatismus noch weiter so gezüchtet wird wie bisher. Uns liegen Listen vor mit 646 Dörfern, in denen die überlebenden Einwohner mit Feuer und Schwert zum Islam bekehrt wurden, mit 568 Kirchen und 77 Klöstern, die völlig ausgeplündert, demoliert oder dem Erdboden gleichgemacht wurden, mit 328 christlichen Kirchen, die in Moscheen verwandelt wurden, mit 21 protestantischen Predigern und 170 gregorianischen Priestern, die um ihrer Weigerung willen, den Islam anzunehmen, oft nach den unerhörtesten Torturen ermordet wurden. Wir wiederholen aber, daß diese Zahlen nur dem Umfang unserer Informationen, aber noch entfernt nicht dem Umfange der Thatsachen selbst entsprechen. Ist dies eine Christenverfolgung

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/36&oldid=- (Version vom 31.7.2018)