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oder nicht? Oder will man noch mehr Beweise für „die weitestgehende religiöse Duldung im türkischen Reich?“

Große Zahlen werden eindrücklicher, wenn man sie in kleine zerlegt. In dem Vilajet Erzerum haben etwa 15 000 Christen unter Androhung des Todes den Islam angenommen. In dem Vilajet Charput wird die Zahl der Zwangsbekehrungen auf ca. 15 000, in dem Wan auf 10 000 berechnet. In den etwa 60 christlichen Dörfern des Bezirks von Charput dient keine christliche Kirche, keine Schule mehr ihrer Bestimmung, und von allen Priestern dieser Dörfer, die entweder Märtyrer oder Apostaten geworden, ist noch ein einziger übrig für die Seelsorge der Handvoll Christen, die noch in der Gegend zerstreut sein mögen.

In der ganzen Umgegend von Baiburt ist die Religion des Kreuzes völlig verschwunden, und in den abgelegenen Gebirgsdörfern obiger Distrikte geht das Bekehren unter gezückten Schwertern und schrecklichsten Drohungen neuer Massacres beständig fort. Mit feierlichen Massen-Beschneidungen coram publico findet diese schändliche Propaganda ihren unwiderruflichen Abschluß. Aus allen Vilajets wird von allen Seiten her berichtet: 20, 40, 60 Dörfer unter Androhung des Todes konvertiert, Kirchen und Klöster zerstört, Priester und Mönche ermordet. In allen noch stehen gebliebenen Kirchen thronen die Mollahs auf den Kanzeln und lehren die Neubekehrten die Vorschriften der muhammedanischen Religion. Von den Türmen sind die Glocken heruntergeschafft, und die Muezzin rufen die „Gläubigen“ zum Gebet. In den Provinzen Sivas, Bitlis, Wan und Diarbekir zählen die konvertierten Dörfer zu Hunderten: der Distrikt Eghin mit 40 Dörfern, der Paludistrikt mit 43 Dörfern, die Distrikte von Selivan, Bescherik, Zerigan und Paravan mit 105 Dörfern, der Distrikt von Diarbekir mit 106, der von Bitlis mit 119 und der Distrikt von Wan gar mit 176 Dörfern. „Islam oder Tod!“ war die Losung für alles, was die ersten Massacres überlebte. Im ganzen Vilajet Diarbekir dient nur noch eine christliche Kirche ihrer Bestimmung, die Sergius-Kirche in Diarbekir selbst. In den vier Städten Urfa, Biredjik, Severek und Adiaman allein sind nach den Ermittelungen des Vizekonsuls Fitzmaurice 5900 Christen zwangsweise konvertiert worden, in Biredjik, das 240 christliche Familien hatte, giebt es keinen Christen mehr.

Daß überall die Kirchen aufs schändlichste entweiht, die heiligen Geräte besudelt, die Bilder zerschnitten oder mit Kot bedeckt, das

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/37&oldid=- (Version vom 31.7.2018)