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schnitt und stach sie an zwölf verschiedenen Stellen. Was darauf folgte, weiß man nicht; das Haus wurde geplündert und verbrannte mit dem Leichnam des Vaters. Aber an jenem Abend fuhr ein Karren in einem anderen Stadtteil vor dem Hause vor, in welchem die Mutter des Mädchens war. Ein Nachbar, ein ihr befreundeter Türke, kam hinein und sagte: „Ich habe dir den Leichnam deiner kleinen Tochter gebracht. Du bist meine Freundin, und ich konnte ihn nicht da liegen lassen. Es thut mir leid, daß dies geschehen.“ Die Mutter nahm den bewußtlosen Körper und entdeckte, daß noch Leben in ihm war. Ein Chirurg wurde gerufen. Er brachte das Kind zum Bewußtsein, und es ist jetzt wieder genesen. Es wurde später nach Konstantinopel und dann nach Deutschland gebracht und lebt gegenwärtig in Frankfurt a. M.

Ich könnte noch viele solche Geschichten erzählen, und es verlohnte sich, die Märtyrerakten der armenischen Kirche zu schreiben, die so viel Tausende der Zahl der Blutzeugen aller Zeiten hinzufügte.

Wenn Tausende von Armeniern für ihren Glauben in den Tod gingen, wer will sich wundern, wenn andere Tausende unter entsetzlichen Drohungen, durch die Schrecken der Blutbäder zur Verzweiflung gebracht, durch einen Schein-Uebertritt zum Islam ihr und der Ihrigen Leben und Ehre zu retten suchten! Ja, verdienen nicht diese Unglücklichen, unter denen Witwen und Waisen die große Masse bilden, noch mehr unser Mitleid als all die Erschlagenen, die durch ihren Tod Gott preisen dursten? Man lese folgenden Brief eines höheren armenischen Geistlichen, der an seinen Freund schreibt: „Mit Dankbarkeit und Thränen lasen wir die tröstlichen Worte Ihres väterlichen Briefes. Doch haben wir augenblicklich alle den Islam angenommen aus Angst vor dem Tod durch Tortur. Auch ich, Ihr geringer Diener, im Alter von 70 Jahren, habe es gethan. Nachdem ich mehrfach wie durch Wunder dem Tode entgangen war und keinen Ausweg fand, fügte ich mich scheinbar und nahm ihren Glauben an, bat aber, daß man mir meines hohen Alters wegen die Beschneidung ersparen möge. Allein sie zwangen mich dazu unter der Drohung, mir im Falle der Weigerung den Kopf abzuschneiden. Sie bedrohten mich ferner mit den schrecklichsten Torturen, wenn ich zum Christentum zurückkehren würde; und wie mit mir, so handeln sie mit allen Christen. Ich kann Sie versichern, daß es hier kein Christentum mehr giebt, wenn nicht bald von irgend einer Seite Hilfe kommt.“

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/40&oldid=- (Version vom 31.7.2018)