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Thatsachen-Materials unserer ersten Kapitel der Leser schon selbst beantwortet haben. Daß die Civil- und Militärbehörden bei der Vorbereitung, dem Ausbruch und der Durchführung der Massacres alle Fäden in der Hand hatten und nichts von der ungeheuren Masse von Schandthaten und Verbrechen ohne ihre Konnivenz, Ordre, Mitwissenschaft oder nachträgliche Sanktion geschah, ist eine Sache von so absoluter Evidenz für jeden, der einen Einblick in die Thatsachen gewonnen hat, daß es hieße, den Wald vor Bäumen nicht sehen zu wollen, wenn man sie zu bestreiten versuchte. Es ist eine dreiste Spekulation auf die Unkenntnis ihrer Leser oder ein Beweis völlig ungenügender Information, wenn angesehene Blätter der europäischen Presse sich anstellen, als ob das Märchen von der Revolution der Armenier oder die Fabeln von armenischen Provokationen in dem Massacre-Gebiet noch aufrecht erhalten werden könnten, und als ob man sich gegen die Thatsache der planmäßigen Vorbereitung und Durchführung der Massacres durch die Behörden noch länger die Augen verschließen dürfte.

Es ist bedauerlich, daß die deutsche Presse von den schon recht umfangreichen Erhebungen und Aufschlüssen des Botschafter-Berichtes, der doch schon Februar dieses Jahres im englischen Blaubuch (Turkey Nr. 2, 1896) vorlag, eine eingehendere Kenntnis nicht genommen hat. Ein aufmerksames Studium derselben hätte schon längst die Widersprüche des Urteils über den Ursprung der armenischen Massacres hinwegräumen können.

Die Aufgabe der Civil- und Militär-Behörden bei der Regie der Massacres war eine verschiedene. Die der Militär-Behörden war einfach. Sie hatten zunächst nur im Geheimen den Pöbel, die einberufenen Reserven, die Kurden- und Tscherkessen-Banden, soweit dieselben nicht schon versehen waren, mit Waffen zu versorgen, eine gewisse Einmütigkeit im Vorgehen der irregulären Truppen, der kurdischen Hamidieh-Regimenter und der Gendarmerie mit der bewaffneten türkischen Bevölkerung durch vorgehende Instruktionen zu bewirken, und mit den regulären Truppen nur einzugreifen, wo entweder ein Widerstand vonseiten der Armenier zu befürchten war, oder das Massacre wegen der anfänglichen Scheu des Pöbels nicht in Fluß kommen wollte oder wegen der Schwäche der Angreifer und der Uebermacht der sich verteidigenden Armenier zurückgeschlagen wurde. Wo irgend die Armenier durch Verbarrikadierung ihrer Dörfer oder Quartiere sich zur

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/44&oldid=- (Version vom 31.7.2018)