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das sehr einfache Rezept befolgt, die Armenier, unter Androhung der Entziehung jeglichen Schutzes vonseiten der Obrigkeit, vollständig zu entwaffnen. Durch Staatsgesetz ist zwar so wie so schon den Christen, und zwar nur den Christen, verboten, Waffen zu tragen. Aber in einem Lande, wo die Regierung ihren christlichen Unterthanen keinerlei Sicherheit gewährt und die Wächter der Ordnung oft genug mit den Räubern und Banditen unter einer Decke stecken, mußte gleichwohl von den Behörden der Besitz von Waffen (mit Ausnahme von gezogenen Gewehren) geduldet werden. Wollte man für die angreifende muhammedanische Bevölkerung Blutvergießen vermeiden, – was die Behörden mit großer Gewissenhaftigkeit bei allen ihren Maßregeln im Auge behielten – so mußte auf der einen Seite die christliche Bevölkerung entwaffnet, auf der anderen Seite für eine ausreichende Bewaffnung der muhammedanischen Bevölkerung Sorge getragen werden. Beides geschah auf eine systematische und gründliche Weise. Durch die Hände der Behörden gingen die Waffen der Armenier in den Besitz der Türken über; wo das nicht ausreichte, wurden die Militär-Depots für die Bewaffnung der Bevölkerung in Anspruch genommen; unter Umständen einfach bekannt gemacht, daß jeder Muhammedaner, der eine Waffe bei einem Christen fände, dieselbe in Besitz nehmen dürfe. Durchgängig leisteten die Armenier schon aus Furcht den Befehlen der Obrigkeit unverzüglich Gehorsam und lieferten ihre Waffen aus; in der Regel machten sie zwar zur Bedingung, daß auch die Muhammedaner entwaffnet werden müßten, was ihnen zwar meist versprochen, aber in keinem einzigen Falle gehalten wurde. Wir wissen nur von einem Ort, dessen Bewohner sich weigerten, ihre Waffen abzuliefern, nämlich Germusch, wo sie es vorzogen, der Obrigkeit lieber gleich ihre Köpfe zum Abschneiden zu Füßen zu legen.

Nachdem so durch die weisen Maßregeln der Behörden die Chancen für die bevorstehenden Massacres derartig verteilt waren, daß bei einem Minimum von Risiko auf seiten der angreifenden Muhammedaner ein Maximum von Wehrlosigkeit auf seiten der angegriffenen Armenier vorhanden war, lag den Regierungsbeamten des weiteren die Pflicht ob, den günstigsten Moment für den Ausbruch der Massacres zu fixieren. Nachdem zu Anfang der Unruhen, die Behörden sich viele Mühe gegeben hatten, ihre Teilnahme an den Vorbereitungen der Massacres, besonders gegenüber den Konsuln zu verschleiern – dem es auch zu

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/46&oldid=- (Version vom 10.12.2022)