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Auf Bitte der Gefangenen unterschrieben auch die angesehensten Einwohner der Stadt das Telegramm, um ein neues Massacre zu vermeiden. Nach diesem ersten Telegramm redigierten die Behörden ein zweites, welches den Armeniern noch schwerere Verschuldungen aufbürdete, und man zwang sie unter den schrecklichsten Drohungen zu unterzeichnen. Sie gaben nach, um einem neuen Massacre zu entrinnen.

Bei dem letzten Massacre in Wan, 14.–22. Juni 1896, zwang der Kommissar der Hohen Pforte eine Anzahl hervorragender Armenier unter Anwendung von Gewalt dazu, ein Schriftstück an die Adresse des Sultans zu unterschreiben, worin sie erklären, daß die belanglosen Unruhen (es wurden dabei nur 20 000 Armenier ermordet) in Wan durch Anstiften einiger verbrecherischer armenischer Uebeltbäter hervorgerufen worden seien.

Man wird vielleicht sagen, warum unterschreiben die Armenier solche Lügenfabrikate? Wir geben die Antwort mit zwei Dokumenten, die wohl genügen werden, um jede weitere Nachfrage nach Gründen verstummen zu machen.

Das eine, ein Brief aus Arabkir vom 29. Dezember 1895:

„Mein lieber Bruder! … Das cynischste an dieser ganzen Sache ist dies, daß nach allen Leiden, die wir haben erdulden müssen, man uns zwingt, Dankadressen an den Sultan zu unterzeichnen. Man zwingt uns sogar, zu sagen, daß wir selbst, die Armenier, all dies gethan hätten. Sind denn die Armenier verrückt geworden, daß sie sich selbst, einer den andern umgebracht und ihre eigenen Häuser verbrannt haben sollen? Und ist Europa so blöde, daß man sich nicht schämt, es mit solchen abgeschmackten Mitteln zu täuschen? Oh, sagen Sie es in Europa, wie es hier zugegangen, damit man kommt, uns zu retten; ohne Hilfe sind wir verloren. Unser Elend ist furchtbar. Was die Massacres überlebt hat. Frauen, Greise und Kinder, kommt von den Bergen, wohin sie sich geflüchtet hatten, zurück; krank, halb nackt, erschöpft vor Hunger und Kälte, irren sie von Straße zu Straße, klopfen an die Thüren der Häuser, die aus dem Brande übrig geblieben sind, und betteln. Aber niemand hat etwas, ihnen zu geben. Man ißt Gras.“

Haben Menschen, die an der Grenze des Hungertodes leben, noch die moralische Kraft, auch unter Torturen und Todesgefahr sich den

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/58&oldid=- (Version vom 31.7.2018)