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damit sie nicht aussterben, denn wer würde sonst die Spatzen liefern, nach denen man mit Kanonen schießen kann? Welcher Unfug aber mit den Nachrichten über armenische Revolutionskomitees etc. in europäischen Zeitungen getrieben wurde, darauf hat bereits der Herausgeber der „Christlichen Welt“ D. Rade gebührend hingewiesen und über die bodenlose Leichtgläubigkeit unserer Zeitungen und unserer Zeitungsleser ein gerechtes Urteil gefällt. „Die Teilnahmlosigkeit will nun einmal ihre Schutzhütte haben, in der sie unterkriechen kann!“

Nun, für wen sind jene Zwangserklärungen bestimmt gewesen, die den Armeniern alle Schuld in die Schuhe schoben? Für wen die Dankadressen, welche die väterliche Regierung Sr. Majestät des Sultans und die mütterliche Sorgfalt der Provinzialbehörden bescheinigten? Für wen die Telegramme, welche „vollkommene Ruhe“ kurz vor dem Ausbruch der Massacres oder mitten im Aufruhr nach Konstantinopel depeschierten? Ohne Frage in erster Linie für das ängstliche Europa, welches vor jedem Krachen in den Fugen des morschen türkischen Reiches wie vor einer Weltkatastrophe zittert, für besorgte Diplomaten, die um des Weltfriedens willen Beruhigung um jeden Preis für die höchste politische Weisheit halten und nicht vielleicht zum mindesten für das böse Gewissen christlicher Großmächte, welches auf diesem Ruhekissen über der durch ihre Politik aufgerührten orientalischen Frage am liebsten wieder einschlafen möchte. Um alles in der Welt Ruhe! Die hunderttausend erschlagenen Armenier werden ja so wie so den Mund halten. Es könnte aber sein, daß die Fabrikate der Lügenfabrik noch einen anderen Zweck gehabt haben. Vielleicht bedurfte eine emsige Hofkamarilla im Yildiz-Kiosk solcher Machwerke, wie wir sie charakterisiert haben, um ihren Herrn und Gebieter zu Entschließungen zu drängen, zu denen sonst vielleicht der zureichende Grund gefehlt hätte. Doch um diese Schlußkette zu Ende zu führen, müssen wir erst weiter ausholen.


Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/62&oldid=- (Version vom 31.7.2018)