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6. Wer ist der Schuldige?

Wir fragen zuvor: Wer ist nicht der Schuldige?

Die Armenier sind nicht die Schuldigen. Es wäre allerdings kein Wunder, wenn das armenische Volk, das seit Jahren durch eine systematische Vernichtungspolitik von seiten der Hohen Pforte jeder Ungesetzlichkeit der türkischen Beamten, jeder Gewaltthat der kurdischen Herren, jeder Erpressung der Steuerbeamten und völliger Rechtlosigkeit vor den Gerichten wehrlos ausgeliefert war, die letzte Kraft zu einer verzweifelten Erhebung gegen das eiserne Joch der Tyrannei aufgeboten hätte. Aber thatsächlich war es gar nicht in der Lage, an einen nationalen Aufstand nur zu denken, denn erstens bilden die Armenier, wenn auch in großen Distrikten kompakt zusammenwohnend, in den in Frage kommenden Provinzen keineswegs überall die Majorität, und zweitens waren sie durch die Gesetze, welche den Christen das Waffentragen verbieten, den Muhammedanern aber erlauben, ein wehr- und waffenloses Volk. In der That hat auch niemand in Armenien selbst daran gedacht, etwas wie eine Autonomie zu erstreben. Was man erhoffte, war nur die endliche Durchführung von Reformen, die, seit 18 Jahren von den christlichen Großmächten garantiert, wenigstens ein erträgliches, noch menschenwürdiges Dasein in Aussicht zu stellen schienen. Auf dem ganzen Gebiet der Massacres ist es uns trotz unserer umfangreichen Informationen, abgesehen von Zeitun, nicht gelungen, irgend eine Bewegung, die auf die Absicht einer Revolte schließen läßt, zu entdecken. Auch der Botschafter-Bericht konnte nirgends auch nur Provokationen von seiten der Armenier feststellen, und wo immer solche von den türkischen Behörden vorgegeben wurden, hat sich die offizielle Berichterstattung als lügenhaft herausgestellt.

In Zeitun lag die Sache so. Als von allen Seiten die Nachrichten von Massacres in den benachbarten Provinzen die armenische Bergbevölkerung des Anti-Taurus in Schrecken versetzten, flüchteten sich Tausende von armenischen Landleuten in das durch den natürlichen Schutz der Berge befestigte Zeitun. In der Umgegend dieser Stadt sind mehr als hundert Dörfer ausschließlich von Armeniern bewohnt.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/63&oldid=- (Version vom 31.7.2018)