Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/64

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Auch diese drängten nach Zeitun hinein. Nun befand sich nahe bei der Stadt eine türkische Citadelle mit etwa 600 Mann Besatzung. Die Armenier bekamen Nachricht, daß diese Besatzung bedeutend verstärkt werden solle und daß man einen Ueberfall über das in Zeitun versammelte wehrlose Volk im Schilde führe. Sie beschlossen, dem zuvorzukommen, bewaffneten sich, so gut sie konnten, cernierten die Citadelle und zwangen die Besatzung zur Uebergabe, ehe Verstärkung anlangte. Sodann verschanzten sie sich in Zeitun und hielten sich den ganzen Winter gegen eine Armee von 80 000 Mann, die nach und nach gegen sie aufgeboten wurde. Der Erfolg hat bewiesen, daß die Armenier von Zeitun, wenn anders man ein Recht der Notwehr überhaupt noch anerkennen will, gut gethan haben. Während in dem ganzen ungeheuren Gebiet die Armenier sich in Tausenden von Dörfern und Städten, ohne auch nur Widerstand zu leisten, hinschlachten ließen, sind allein die Tapferen von Zeitun, dank der Intervention der europäischen Konsuln, nicht nur mit einer Amnestie davongekommen, sondern haben sich sogar noch das Vorrecht einer Art von Autonomie für Zeitun und Umgegend erwirkt. Es ist wirklich eine Ironie des Schicksals. Die europäische Diplomatie entschuldigt die Zuschauerrolle, die sie gegenüber der Abschlachtung eines ihr schutzbefohlenen christlichen Volkes spielt, damit, daß dasselbe durch seine revolutionäre Haltung gegen die türkische Regierung den Schutz von seiten der Mächte verwirkt habe; aber an dem einzigen Punkte, wo die Armenier, wenn man will, wirklich revoltiert haben, finden sie den ernstlichen Beistand eben dieser Mächte und setzen noch mit Hilfe derselben bei der Pforte alle ihre Forderungen durch, während an den Tausenden von Plätzen, wo sie, an jeder Gegenwehr verzweifelnd, sich dem mörderischen Schwert der Feinde ausliefern, ihnen jeglicher Schutz verweigert und obendrein noch eine Moralpredigt gehalten wird, daß sie es nicht bester verdient hätten. Da möchte man wirklich wünschen, daß die Armenier überall in der Lage gewesen wären, das Beispiel der Bürger von Zeitun zu befolgen und eine allgemeine nationale Erhebung zu stande zu bringen. Sicherlich wäre von den christlichen Großmächten einem Volk mit den Waffen in der Hand die Hilfe zuteil geworden, die man einem wehrlosen Volk unter heuchlerischen Gründen verweigerte.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/64&oldid=- (Version vom 16.5.2018)