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Der Vernichtung des armenischen Volkes liegt ein einheitlicher, schon seit Jahren vorbereiteter Plan zu Grunde, der in den letzten Monaten des vergangenen Jahres infolge des Vorgehens der Mächte mit überstürzter Hast zur Ausführung gebracht wurde. Während schon seit Jahren die von der Regierung bestellten Werkzeuge der Zerstörung in aller Stille und mit möglichst wenig Aufsehen arbeiteten, sah sich die Hohe Pforte durch die drohenden armenischen Reformen genötigt, den Prozeß zu beschleunigen und, selbst auf die Gefahr hin, ganz Europa in Empörung zu setzen, mit einem Schlage das armenische Volk zu vernichten und dem verhaßten Christentum, welches immer wieder die Sympathie Europas erweckte, ein schnelles Ende zu bereiten. Ein einheitlicher Plan in Bezug auf Ort, Zeit, Nationalität der Opfer und sogar auf die Methode des Mordens und Plünderns, lag der Gesamtheit der Massacres zu Grunde.

In Bezug auf den Ort waren dieselben zunächst beschränkt auf das Territorium der sechs Provinzen, Erzerunm, Bitlis, Wan, Charput, Sivas, Diarbekir, in denen Reformen eingeführt werden sollten. Als eine Bande berittener Kurden und Tscherkessen, die auf 2–3000 geschätzt wurde, das Gebiet dieser Provinzen zu verlassen drohte, traten ihnen die Behörden der Provinz Angora entgegen und veranlaßten sie, umzukehren mit der Begründung, daß sie keine Vollmacht hätten, die Grenze der Provinz Sivas zu überschreiten. Allerdings haben die Massacres im Verlauf der Unruhen, abgesehen von einem völlig deplacierten Putsch in Ak-Hissar (Mutessariflik Ismidt), auch auf die Provinzen Aleppo, Adana und Angora übergegriffen, aber man muß bedenken, daß auch für diese Provinzen von den Mächten, soweit in bestimmten Distrikten derselben armenische Bevölkerung kompakter zusammenwohnte, Reformen gefordert wurden, denen vorzubeugen ebenso notwendig erschien. Uebrigens sind auch die Provinzen Angora (mit Ausnahme von Cäsarea und Umgebung) und Adana (mit Ausnahme der Landdistrikte von Paias und Tschok-Merzemen) ziemlich verschont geblieben. Daß in Trapezunt die Massacres ihren Anfang nahmen, scheint daher zu rühren, daß dort ein besonderer Zwischenfall, ein noch unaufgeklärtes Attentat auf zwei Paschas, eine besonders günstige Gelegenheit zum Losschlagen bot. In der Provinz Aleppo nahm der durch die Nachrichten aus anderen Vilajets aufgereizte muhammedanische Fanatismus die Bewegung in den Bergen von Zeitun zum

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/66&oldid=- (Version vom 31.7.2018)