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erwirken, machte der türkische Hausherr, während er die lästigen Dränger mit Versprechungen hinhielt, von rasender Eifersucht besessen, von seinem barbarischen Rechte Gebrauch und erdrosselte kurzer Hand das unglückliche Opfer des europäischen Mitleids. Noch standen die Botschafter christlicher Großmächte vor der Pforte des Kaiserlichen Palastes, um, wie sie aller Welt verkündet, das befreite Armenien, stolz auf die Erfolge ihrer Diplomatie, in ihre Arme zu schließen, als sich plötzlich die Pforten öffneten, und ein scheußlich verstümmelter Leichnam ihnen vor die Füße geworfen wurde. Die Diplomaten kehrten auf der Stelle um, und niemand wollte etwas gesehen haben. Sie sitzen nach wie vor an der Tafel des Sultans und sind glücklich, für die Erfolge ihrer Diplomatie durch hohe Dekorationen ausgezeichet zu werden!

Doch um aus der Sprache des Bildes in die der Politik zurückzukehren: Wie lauteten doch jene Verträge, durch welche sich einst das humane Europa für das Glück des armenischen Volkes verbürgt hatte?

Nach der siegreichen Beendigung des russisch-türkischen Krieges hatte sich Rußland im Vertrage von St. Stefano als eine der Früchte des Sieges den Schutz des unglücklichen armenischen Volkes ausbedungen. Artikel 16 des Vertrages lautete: „Da der Abzug der russischen Truppen aus dem von ihnen besetzten armenischen Gebiete, das den Türken zurückgegeben werden soll, Veranlassung zu Konflikten und Verwicklungen geben könnte, die die Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern unmöglich machen würde, so verpflichtet sich die Hohe Pforte, ohne weiteren Verzug die durch örtliche Bedürfnisse in den von Armeniern bewohnten Provinzen erforderten Verbesserungen und Reform ins Werk zu setzen und den Armeniern Sicherheit vor Kurden und Tscherkessen zu garantieren.

Die christlichen Großmächte aber, welche die Palme der Humanität nicht den Händen Rußlands überantworten wollten, ehe sie zuvor um so hohen Preis im edelsten Wettstreit gerungen, schoben im Berliner Vertrag auf Vorschlag Englands, den Artikel 16 des Vertrages von St. Stephano beiseite und ersetzten ihn durch die solidarische Bürgschaft aller Signatarmächte für die Einführung von Reformen und den Schutz der armenischen Christen:

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/76&oldid=- (Version vom 31.7.2018)