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Also, die Vertreter christlicher Großmächte waren sich dessen vollkommen bewußt, daß die „Fortdauer“ der in den armenischen Provinzen „herrschenden Anarchie aller Wahrscheinlichkeit nach die Vernichtung der christlichen Bevölkerung in jenen weiten Landesteilen zur Folge haben würde,“ und gleichwohl verzichteten sie weitere fünfzehn Jahre einmütig darauf, dem kraftvoll arbeitenden Vernichtungswerk der türkischen Verwaltungsmaschine in Armenien, die die christliche Bevölkerung wie das Stroh auf der Tenne drosch, noch irgend welche Schwierigkeiten zu bereiten. Warum auch? Wußten doch diese Diplomaten ebenso gut, wie die klugen Paschas der Hohen Pforte, daß die „durch einen internationalen Akt“ garantierten Reformen ewig auf dem Papier bleiben würden, und daß daran all’ ihr Schreibwerk mit samt ihren mündlichen Vorstellungen nichts ändern würde. Sie hätten ja die Kollektivnote vom 7. September 1880 stereotypieren und in den nächsten fünfzehn Jahren am Ende jeden Quartals der Hohen Pforte wieder überreichen lassen können; aber wer kann es Männern von Bildung und Ehre verargen, wenn sie darauf verzichteten, nachdem sie zwei oder dreimal an der Nase herumgeführt waren, bei diesem Fackeltanz noch länger mitzuwirken. Denn daß von keiner Seite etwas anderes als Stilübungen diplomatischer Noten in Vorschlag gebracht werden würden, darüber war man sich von vornherein klar.

Inzwischen arbeitete die Maschine weiter. In welcher Weise von ihren eisernen Zähnen die christliche Bevölkerung Armeniens langsam aber sicher zermalmt wurde, davon kann man sich aus den dokumentarischen Berichten eines Augenzeugen, der im Herbst vorigen Jahres das christliche Publikum von England alarmierte, eine sachgemäße Vorstellung bilden. Wir geben den Artikel von E. J. Dillon in der „Contemporary Review“ : „The Condition of Armenia“, August 1895, im folgenden (Nr. III) wieder. Auch die lehrreichen Publikationen von Fr. D. Greene und Rev. Malcolm Mac Coll hätten es verdient, dem deutschen Publikum zugänglich gemacht zu werden; denn diese Männer nehmen auch der Politik ihrer eigenen Regierung gegenüber kein Blatt vor den Mund und enthüllen mit einer Deutlichkeit, die selbst einem Türken die Schamröte ins Gesicht treiben müßte, die schmachvollen Praktiken türkischer Beamten, Offiziere, Richter, Steuer- und Polizeibeamten, neben deren Schandthaten sich die Plündereien

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/81&oldid=- (Version vom 31.7.2018)