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und Mordthaten der Kurden wie harmlose Schuljungenstreiche ausnehmen.

„Der tatsächliche Erfolg unseres Vorgehens gegen Rußland 1878,“ schreibt Dillon, „ist, vom rein humanitären Gesichtspunkt aus betrachtet, der gewesen, daß wir in den armenischen Provinzen ein Schreckenssystem verewigt haben, im Vergleich zu dem die Leiden der Negersklaven in den amerikanischen Südstaaten leichte Unzuträglichkeiten gewesen sind. Wir haben feierlich das Fegfeuer abgeschafft und ließen zu, daß an dessen Stelle eine Hölle gesetzt wurde. Wir übernahmen, dafür zu sorgen, daß die Mißstände ... sofort und endgiltig beseitigt werden sollten; und dann haben wir nicht nur versäumt, diese freiwillig übernommene Pflicht ... zu erfüllen, sondern wir ließen zu, daß sich das lockere System einer ungeordneten Verwaltung allmählich zu einer diabolischen Vernichtungspolitik entwickelte, ohne daß wir gewagt hätten, unsere Macht fühlen zu lassen oder unsere Ohnmacht einzugestehen.“

Sechzehn Jahre lang arbeitete die Maschine still und geräuschlos. Wenn auch dann und wann von den Diplomaten, denen ja die „Ueberwachung“ der Maßregeln der Pforte oblag, ein Steinchen zwischen die Räder geworfen wurde, so empfand doch die Pforte dies lediglich als einen harmlosen Scherz. Da plötzlich, im August 1894, gab die Maschine, weil sie zu scharf arbeitete, einen hörbaren Ruck und das aufgeschreckte Europa wurde durch das Massacre von Sassun in unliebsamer Weise an die Existenz von Armenien erinnert. Wie in einem aufgestörten Bienenkorb surrte es in der hohen Politik durcheinander. Eine Untersuchungs-Kommission wurde eingesetzt und 108 Protokolle abgefaßt, gar nicht zu reden von den Bänden diplomatischer Noten, die zusammengeschrieben wurden. Die Hohe Pforte konnte gar nicht begreifen, was eigentlich los war; denn was in Sassun passierte, war ja nur ein etwas markanteres Specimen der üblichen Verwaltungsmethode und nebenbei noch eine kleine Belastungsprobe von dem, was die europäische Diplomatie sich etwa in Armenien gefallen lassen würde.

Es ist kein Zweifel, die Verlegenheit, die den kontinentalen Kabinetten durch die auch allzu unvorsichtige innere Politik der Pforte bereitet wurde, kam dem Auswärtigen Amt in London gerade recht und die Wiederaufnahme der Verhandlungen über die armenischen

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/82&oldid=- (Version vom 31.7.2018)