Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/83

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Reformen im Februar 1895 entsprang keineswegs nur dem humanitären Bedürfnis der liberalen Regierung. Aber die Prozesse der Zeitgeschichte auf zwei oder drei Drähte zurückzuführen, die in den Kabinetten von London, Petersburg und Paris von mehr oder weniger reinlichen Händen gezogen werden, und den elementaren Ausbruch der orientalischen Krise, die voraussichtlich nur mit dem Zusammenbruch des türkischen Reiches enden wird, nur Machenschaften etlicher mehr oder weniger klugen Diplomaten zur Last zu legen, das heißt denn doch das Drama der Weltgeschichte aus der Konstruktion eines Kasperle-Theaters begreifen zu wollen.

Das Massacre in Sassun hatte ein so grelles Licht auf die Vernichtungspolitik der Pforte in Armenien geworfen, daß, auch abgesehen von dem Nutzen, den ein schärferes Vorgehen im Orient in der allgemeinen politischen Lage England bringen konnte, das liberale Kabinett kaum umhin konnte, der Entrüstung des englischen Publikums Rechnung zu tragen und endlich an eine Einlösung der Verpflichtungen der Cyprischen Konvention zu denken. Den Verhandlungen wegen Einführung von Reformen in Armenien, die England Ende März 1895 bei der Pforte aufzunehmen begann, schlossen sich im April Rußland und Frankreich offiziell an. Am 11. Mai überreichten die Dragomanen der englischen, französischen und russischen Botschaft der Pforte den von den drei Botschaften ausgearbeiteten Reformplan für die östlichen Provinzen Kleinasiens, der die Billigung der drei Mächte gefunden hatte. Dieser erstreckte sich auf die sechs Provinzen Erzerum, Bitlis, Wan, Siwas, Charput, Diarbekir und forderte eine durchgreifende Reform der Verwaltungs-, Justiz- und Polizei-Behörden, des Gefängnis- und Steuerwesens und energische Maßregeln gegen die Uebergriffe der Hamidieh-Truppen und die Raubzüge der Kürdenstämme. Die Verwaltungs-, Justiz- und Polizei-Behörden sollten im Verhältnis der Bevölkerung aus muhammedanischen und christlichen Beamten zusammengesetzt werden. Eine Statistik aus dem Jahre 1880 giebt für die in Frage kommenden sechs Vilajets folgende Zahlen: Christen: 1 0548 000 (Armenier: 780 800 – Syrer: 251,000 – Griechen: 23 000) Muhammedaner 776 500 (Türken: 220 000 – Tscherkessen: 100 000 – Kurden 380 000 und sonstige 76 500).

Die Hohe Pforte wurde durch diesen Reformplan, hinter dem die drei im Orient interessiertesten Großmächte standen, in die äußerste Verlegenheit

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/83&oldid=- (Version vom 31.7.2018)