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geführt, um so mehr, da auch die anderen Mächte, Deutschland eingeschlossen, die Pforte drängten, demselben zuzustimmen. Eine bürgerliche Gleichberechtigung der Christen, auch nur vor dem Gesetz, wie viel weniger in der Verwaltung, duldet das muhammedanische Religionsgesetz nun und nimmermehr; gestattet dasselbe doch nicht einmal das Zeugnis eines Christen gegen einen Muhammedaner vor Gericht. Allerdings hatte alles, was der Reformplan forderte, im Wesentlichen schon der Hatt-i-Humayum von 1856 für das ganze türkische Reich auf dem Papier bewilligt, aber derselbe war ein toter Buchstabe geblieben, schon aus dem einfachen Grunde, weil er niemals die Sanktion des Scheikh-ül-Islam erhalten hat und erhalten konnte. So sehr sich die Diplomaten der Hohen Pforte wanden und drehten und durch monatelange Verhandlungen der Zustimmung zu dem Reformplan auszuweichen suchten, so blieb doch endlich dem Sultan nichts anderes übrig, als zu der langen Reihe unerfüllter Versprechungen auch noch diese hinzuzufügen und den Reformplan zu unterschreiben. Schon am 14. September hatte die Pforte in einem Telegramm an Rustem Pascha, den Botschafter in London, in der Hauptsache ihre Zustimmung zu den Reformen erklären lassen und nach weiteren Verhandlungen fand die armenische Reformfrage am 22. Oktober durch eine Verbalnote des Großvezir Said Pascha ihren diplomatischen Abschluß. Ueberdies gab der Sultan in einem Schreiben an Lord Salisbury sein Ehrenwort, daß die Reformen unverzüglich und buchstäblich in Ausführung gebracht werden sollten. Aber die Hohe Pforte hatte aus den Verhandlungen mit den Mächten diesmal die Ueberzeugung gewonnen, daß nach deren Willen die Reformen mehr als Papier sein sollten, und daß, wollte sie die thatsächliche Ausführung dennoch hintertreiben, irgend etwas in den Provinzen passieren müßte, was de facto die Reformen unmöglich machen würde.

Anfang Oktober, nachdem die armenische Demonstration in Konstantinopel eine gute Handhabe geboten, hatten die Civil-, und Militär-Behörden in den Provinzen schon ihre Instruktionen aus dem Palast erhalten. Die Vernichtungsmaschine der türkischen Verwaltung wurde auf Volldampf gestellt und binnen drei Monaten war die Zermalmung der armenischen Bevölkerung in allen Provinzen, für die Reformen zugestanden waren, und darüber hinaus, der Hauptsache nach vollendet.

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/84&oldid=- (Version vom 31.7.2018)