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Wir fragen noch einmal: Was sind die armenischen Massacres? Sie sind eine administrative Maßregel der Hohen Pforte, welche zum einzigen Motiv und Zweck hatte, die von den Großmächten durchgesetzten armenischen Reformen durch Vernichtung des armenischen Volkes selbst endgültig unausführbar zu machen.

Ein hoher Beamter in der Türkei, der außergewöhnliche Gelegenheit hatte sich zu unterrichten, sprach sich über die armenischen Massacres folgendermaßen aus: „Lassen Sie sich durch die albernen Regierungsberichte nicht täuschen, welche alle diese Metzeleien auf die Armenier schieben wollen: es war der vorbedachte Plan der Regierung, die Armenier zu züchtigen; der Sultan war ergrimmt, weil er gezwungen war, ihnen Reformen zuzugestehen und so ließ er, nachdem er den Reformplan unterschrieben hatte, die Armenier umbringen, um seine Macht zu zeigen.“

Vor kurzem ging eine Mitteilung durch die Presse, wonach der Zar gegenüber dem während der Drucklegung dieser Schrift verstorbenen Fürsten Lobanoff sich folgendermaßen ausgesprochen habe:

Die Türkei scheint uns hintergehen zu wollen. Ich kann und will aber nicht gestatten, daß die Greuelthaten weiter fortgesetzt werden, bis vielleicht der letzte christliche Unterthan des Sultans abgeschlachtet worden ist. Dies muß ein Ende haben.

Hier ist des Rätsels Lösung gefunden; aber für die unter der Erde liegenden 10 000 Armenier leider zu spät.

Soll es aber wirklich dazu kommen, daß die europäische Politik auf dem seit Jahren beschrittenen, verhängnisvollen Wege umkehrt, so muß zuerst die schmerzliche Wahrheit zur allgemeinen Erkenntnis kommen, daß niemand anders die furchtbare Vernichtung des armenischen Volkes herbeigeführt hat, als die Politik der christlichen Großmächte selbst. Hätten die Mächte nicht den von den Armeniern bewohnten östlichen, sondern den von Griechen bewohnten westlichen Provinzen Kleinasiens ihr Interesse zugewendet, man kann mit Sicherheit behaupten, daß diese das gleiche Schicksal wie Armenien betroffen hätte. Denn es bestand in Armenien selbst keinerlei Ursache, die den Armeniern den vernichtenden Haß der türkischen Regierung hätte zuziehen können. „Die armenische

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/85&oldid=- (Version vom 31.7.2018)