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Bevölkerung ist eine friedfertige gewesen“, bezeugte noch im September der auswärtige Minister Turkhan Pascha den Dragomanen Englands, Frankreichs und Rußlands, „bis sich ihnen die Sympathieen der Großmächte zuwandten.“ Hätten die Mächte Armenien sich selbst überlassen, die Armenier wären noch heute, zwar kein glückliches, aber nicht das unglücklichste Volk, das jetzt der Erdboden trägt.

Aber nicht, daß die europäischen Diplomaten sich eines armen, zertretenen Volkes angenommen, ist zu tadeln; wohl aber, daß sie es in einer Weise gethan, daß eben dieses Volk die Zeche für ihre Politik mit seinem Blut bezahlen mußte.

Es ist immer noch besser an der Brutalität einer barbarischen Regierung, als an dem Mitleid civilisierter Völker zu Grunde zu gehen. Dann wäre doch wenigstens dies arme Volk von den Moralpredigten unwissender Zeitungsschreiber und den Krokodilsthränen europäischer Diplomaten verschont geblieben und nicht um eine ehrliche Leichenpredigt gebracht worden. Oder thue ich den Diplomaten Unrecht? Man sagt, daß das Krokodil, wenn es auf Raub lauert, die Stimme eines weinenden Kindes annimmt. Paßt der Vergleich etwa nicht? Was war sonst der Sinn jener Verträge, die unter dem Vorwande der Humanität, wie es den Anschein hat, nur der brutalsten Interessenpolitik dienen sollten?

Oder giebt es vielleicht in dem christlichen Europa noch ein anderes Ideal von Politik? Es wäre wirklich an der Zeit, es zu beweisen.

Aber was geht die ganze Geschichte Deutschland an? In Wahrheit, die deutsche Diplomatie hat sich durch keinerlei strafbare Handlungen in dem ganzen Lauf der Jahre seit dem Berliner Vertrag an dem armenischen Volk versündigt. Sie hat es vorgezogen die Freundschaft des Sultans nicht einmal durch Sympathie-Kundgebungen für das Opfer auch ihrer Politik zu verscherzen. Ihre Richtschnur war ihr vorgezeichnet durch das Diktum von den „Knochen des pommerschen Grenadiers“, deren kein Bulgare, geschweige denn ein Armenier, wert zu achten sei. Wohl niemals hat ein zu seiner Zeit zutreffendes bon mot eine so nachhaltige politische Macht ausgeübt, als dieses glücklich geprägte Wort. Und von der Tyrannei, die ein kraftvoller plastischer Ausdruck über die hausbackene Prosa logischer Gründe ausüben kann, mag sich jeder überzeugen, der heut oder morgen, im harmlosen Gespräch, für eine

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/86&oldid=- (Version vom 31.7.2018)