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europäische Hilfskomitees bildeten, um die Hunderttausende von Notleidenden vor dem Hungertode zu bewahren, wurde zunächst die Verteilung von Lebensmitteln von der Hohen Pforte und den Valis direkt untersagt oder, wo man damit ohne Erlaubnis angefangen, suspendiert. Eine ganze Zeit lang wurden die Agenten der Hilfskomitees, wenn sie bei der unerlaubten Ausübung von Humanität ertappt wurden, einfach arretiert, so daß sich niemand mehr zu diesem lebensgefährlichen Beruf hergeben wollte. Es ist nur der unbeugsamen Energie des englischen Botschafters zu danken, daß sich die Hohe Pforte in dieser Beziehung allmählich europäischen Anschauungen anbequemte. Inzwischen aber waren Hunderte von Menschen Hungers gestorben. Ein besonders lehrreicher Fall passierte in Biredjik. Man wußte, daß dort 200 Familien, die zwangsweise zum Islam übergetreten waren, von ihren neuen Glaubensgenossen einfach dem Hungertode überlassen wurden; nicht einmal ihre Betten und Kleider hatte man ihnen zurückgegeben. Da machte sich der englische Missionar Dr. Christie mit einigen Wagen voll Lebensmitteln und Kleidern und einer Empfehlung des Vali von Aleppo auf den Weg. Das Schreiben des Vali muß einen merkwürdigen Inhalt gehabt haben. Denn als Dr. Christie nach Biredjik kam und dem Kaimakam seine Aufwartung machte, wurde er zwar von vorn bekomplimentiert, aber hinten herum vereitelte man den Zweck seiner Reise. Die Hungerleidenden wurden durch die Polizei verhindert mit ihm zusammenzukommen und mußten sich begnügen, ihn über die Dächer hin durch Kreuzeszeichen, die sie machten, zu verständigen, daß sie gern wieder Christen würden. Die große armenische Kirche diente als Moschee, die kleinere protestantische, die gerüchtweise als Abtritt benutzt wurde, war zwar frisch gereinigt worden, immerhin lagen noch lose Blätter einer alten Bibel in höchst verdächtiger Beschaffenheit herum. Der Aufenthalt des Dr. Christie wurde, da auch um ihn herum mit Flinten geschossen wurde, mit jedem Tage abenteuerlicher, so daß er sich am vierten Tage entschloß, mit seiner ganzen Bagage von Liebesgaben unverrichteter Dinge wieder abzuziehen und nach Aleppo zurückzukehren. Als er sich vor der Abreise bei dem Kaimakam beklagte, hatte dieser die Unverfrorenheit ihm zu erklären, er glaube wohl, daß die Armenier nichts von ihm wissen wollten, da sie als neubekehrte Muhammedaner nunmehr zu stolz seien, etwas von einem Christen anzunehmen, er möge ihm aber von Aleppo eine Ordre

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/92&oldid=- (Version vom 31.7.2018)