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Es ist schade, daß zu diesem außerordentlichen Schauspiel nicht einige Konsuln als Zeugen eingeladen wurden, umsomehr da man weiß, daß die türkischen Gefängnisse für alle Muhammedaner, die sich an Christen verschuldet haben, die merkwürdige Einrichtung haben, daß, wenn sich vorn die Gefängnisthür schließt, eine andere Thür hinten sich öffnet. Um übrigens dem Rechtsbewußtsein eine öffentliche Genugthuung zu geben, werden alle armenischen Delinquenten, sogar in Konstantinopel, auf offener Straße coram publico gehängt.

Daß von den hohen Beamten und Offizieren, die bei den Massacres in besonders hervorragender Weise mitgewirkt haben, die meisten alsbald abberufen und auf andere hohe Posten befördert wurden, ist ebenso weise als billig, da dadurch jeder weiteren Untersuchung über das Geschehene vorgebeugt wurde.

Gleichwohl konnte sich die Hohe Pforte nicht nachsagen lassen, daß sie nicht die allerenergischsten Anstrengungen gemacht hätte, die Anstifter alles Unheils zu ermitteln und zu bestrafen. Dies ist ihr denn auch gelungen, wie folgende Mitteilung der Frankfurter Zeitung beweist:

„Konstantinopel, 12. August. Nachdem die Pforte die befremdende Forderung an das gemischte Konzilium des armenischen Patriarchats gestellt hatte, von nun an für alle Ausschreitungen, die sich in armenischen Kreisen ereignen würden, die volle Verantwortlichkeit zu übernehmen, war es vorauszusehen, daß weder Monsignore Izmirlian noch sein Beirat auf eine derartige absurde Forderung eingehen würden und es vorzögen, ihre Entlastung zu nehmen. Die Regierung, die von vornherein diesen Zweck verfolgte, ging aus der Sache als Siegerin hervor und hat nun alle Fäden in der Hand, die armenische Frage nach ihrem Gutdünken zu regeln. Bei der Wahl des einstweiligen Stellvertreters des Patriarchen verfiel man im Palais zunächst auf den Bischof Kirkiß Ohannesian, eine Kreatur der Kamarilla. Welche geheimen Intriguen jedoch im letzten Augenblicke mitgespielt haben mögen, oder aber ob derselbe einigen der gegenwärtigen Machthaber denn doch nicht so ganz verläßlich erschien, kurz, im letzten Augenblicke entschied man sich für den gewesenen Erzbischof von Brussa Bartholomäus Tschomtschian, dessen bisherige Gesinnung alle Zweifel beseitigt, da er als langjähriger Polizei-Spion eine monatliche Gratifikation von 30 türk. Pfd. bezog, und so wurde derselbe zum Locum tenens ernannt.“

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/94&oldid=- (Version vom 31.7.2018)