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man einem Vieh solchen Aufenthalt nicht geben würde. Wenn sich jemand erkühnt, gegen die erfahrene Behandlung zu protestieren, wird er sofort in noch dunklere Kerker geworfen und jeder Willkür seiner unmenschlichen Wächter preisgegeben.


9. Hungersnot.

Daß mit Ende vorigen Jahres und noch gegenwärtig in Armenien eine Hungersnot von den riesigsten Dimensionen herrscht und daß dort 500 000 Menschen, um nicht Hungers zu sterben, thatsächlich auf die Unterstützung der Christen des Abendlandes angewiesen sind, davon weiß man in Deutschland, dem Lande, das sich schon gerühmt hat, an der Spitze der Humanität zu marschieren, nichts.

Die hohe Politik gebietet, daß in Armenien weder Massacres stattgefunden haben, noch eine Hungersnot herrscht, und die gehorsame offiziöse Presse – und wer alles gehört in der orientalischen Frage nicht dazu? – verschweigt tapfer alles, was man über Armenien weiß und wissen kann; denn dem guten Freunde, dem Türken gegenüber, hat eine christliche Politik das Gebot des Katechismus zu befolgen: „sondern ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.“

Wenn irgendwo in der Welt eine Feuersbrunst, eine Ueberschwemmung, eine Seuche zu berichten ist, und unsere gewissenhafte Presse läßt sich in der Beziehung keine Versäumnisse zu schulden kommen, werden Sammlungen für Notleidende veranstaltet, Wohlthätigkeitskonzerte und Vorstellungen gegeben, Bazare arrangiert, Kirchenkollekten ausgeschrieben; hohe und höchste Herrschaften stellen sich an die Spitze von Hilfskomitees und nichts wird unterlassen, bis das öffentliche Gewissen die Beruhigung hat, daß die Not behoben[WS 1] ist. Aber mit Armenien ist das etwas anderes. Da gebietet die hohe Politik dem Mitleid Schweigen, und ein politisch wohlerzogenes Publikum nebst allem was offiziell ist, Presse so gut wie Kirche, gehorcht. Der Hungersnot in Armenien zu steuern, überläßt man dem „perfiden“ England und den Antipoden im christlichen Amerika. In der That,

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/98&oldid=- (Version vom 31.7.2018)