Seite:Armenien und Europa. Eine Anklageschrift.pdf/99

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

hätte es nicht in England und Amerika ein großes christliches Publikum gegeben, das nicht nur dank seiner unabhängigen Presse politisches Urteil, sondern auch ein Herz für ein armes, zertretenes Volk besaß: – alles, was in Armenien aus den Massacres noch übrig geblieben war, Hunderttausende von Menschen, die jeder Habe, der Kleider, der Betten, der Häuser und des täglichen Brotes beraubt waren; Hunderttausende von Witwen und Waisen wären dem Hungertode erlegen.

Die Endabsicht der türkischen Vernichtungspolitik wäre erreicht, die armenische Frage aus der Welt geschafft und das europäische Konzert hätte nur noch die marcia funebre zu spielen. Aber Gott sei Dank, England und Amerika haben durch großartige Opferwilligkeit, die Millionen aufbrachte, das armenische Volk davor gerettet, daß nicht, was dem Schwert entronnen war, wie es die Hohe Pforte wünschte, dem Hungertod erlag.

Aber auch Deutschland hat etwas für Armenien gethan. In den sogenannten Pietistenkreisen Nord- und Süddeutschlands sind durch christliche Blätter, von denen die politische Presse ebenfalls nichts weiß, von kleinen Leuten 100 000 M. zusammengebracht worden. Die evangelische Allianz hat in christlichen Kreisen durch ihren Aufruf auch 60 000 M. gesammelt. Einige Tageszeitungen, wie der Reichsbote, haben sich daran beteiligt, und die Kreise der „Christlichen Welt“, durch die mannhafte Wahrheitsliebe ihres Herausgebers aufs beste über Armenien unterrichtet, haben hervorragend dazu beigetragen. Auch Kaiserswerth hat für armenische Waisenkinder etwa 80 000 M. erhalten. Das ist ungefähr alles, was Deutschland für Armenien gethan hat. Also nur in den Kreisen entschiedensten Christentums hat sich das Mitleid mit den Opfern der europäischen Politik durch eben diese Politik nicht zum Schweigen bringen lassen. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß Frankfurt a. M. nahezu die einzige Stadt in Deutschland gewesen ist, welche durch ihre politische und christliche Presse sich des armenischen Volkes wahrhaft angenommen hat. Es sei der Frankfurter Zeitung zur Ehre gesagt, daß sie die besten und unparteilichsten Berichte über Armenien gebracht hat und noch bringt. Unabhängig von ihr sind D. Rades „Christliche Welt“ und das in 90 000 Exemplaren verbreitete Erweckungs-Blättchen „Für Alle“ des Pfarrer Lohmann, beide schon seit Anfang des Jahres unentwegt für Armenien eingetreten. Pfarrer Lohmann hat allein etwa ½ aller in Deutschland

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/99&oldid=- (Version vom 31.7.2018)