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Seele ahnt sie nichts. Nichts von vergangenen, bösen Wünschen, die heute noch als Gespenster in mir umgehen, nichts von der Angst, die mich in schlimmen Stunden bedrückt, nichts von dem Brief, der in meines Bruders Händen ist, von dem furchtbaren Brief, der ihm Gewalt über mein Leben gibt.

Plötzlich fühlte er eine würgende Angst in sich aufsteigen, eine ganz neue, und doch wieder die alte. Wieso fiel ihm der Brief mit einem Male wieder ein? Was hatte der Brief denn heute noch zu bedeuten? Er hatte doch nur Geltung für einen bestimmten Fall; und dieser Fall lag nicht vor, konnte niemals eintreten. Er war nicht wahnsinnig; er war gesund. Aber was half ihm das, wenn ihn andere für wahnsinnig hielten? Was half es ihm, wenn am Ende der eigene Bruder ihn für wahnsinnig hielt? Konnte es nicht geschehen, daß grade die wundersame Veränderung seines Seelenzustandes, dieses Aufschweben, diese Gelöstheit, diese Heiterkeit seines Wesens, einem getrübten Blick die Anzeichen einer herannahenden Geistesstörung vortäuschten? Vor wenigen Tagen erst hatte sich Marianne ihm gegenüber mit wachsender Besorgnis über ihres Gatten blasses und abgespanntes Aussehen geäußert; – als Robert daraufhin eine brüderliche Mahnung an Otto wagte, war ihm das unverhältnismäßig Gereizte, fast Barsche in dessen Antwort aufgefallen, und in der Erinnerung

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Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. Berlin: S. Fischer, 1931, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Arthur_Schnitzler_%E2%80%93_Flucht_in_die_Finsternis_%E2%80%93_110.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)