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Der jüngere Bruder war einverstanden, und sie aßen und tranken, bis sein Geld aufgezehrt war. Dann sagte der jüngere Bruder: „Jetzt, Bruder, werden wir für dein Geld leben.“ Aber der ältere Bruder lachte und sagte: „Das wird gewiß nicht geschehen! Glaubst du, daß ich auch so dumm bin wie du? Aber ich will dir etwas sagen: Wenn du mir erlaubst, daß ich dir ein Auge aussteche, dann will ich dir zu essen geben.“

Den jüngeren Bruder hungerte sehr, Geld hatte er nicht mehr, um sich Speisen zu kaufen, und so mußte er schon seinem Bruder erlauben, ihm ein Auge auszustechen. Jetzt aber war er auf einem Auge blind. Sie gingen weiter. Bald hungerte sie wieder, und der Halbblinde bat seinen Bruder, er möge ihm zu essen geben. Dieser antwortete: „Ich gebe dir zu essen, wenn du einwilligst, daß ich dir auch das andere Auge aussteche.“ Der Halbblinde hatte so großen Hunger, daß er sich auch das zweite Auge ausstechen ließ. Aber jetzt war er ganz blind und sah nichts mehr. Da sagte er zu seinem Bruder: „Jetzt bin ich ganz blind. Führe mich an den Weg, wo Menschen gehen, damit ich die Hand ausstrecken und um ein Stück Brot bitten kann.“

„Ich werde dich hinführen,“ versprach der ältere Bruder. Aber er führte ihn nicht an den Weg, wo Menschen gingen, sondern ging mit ihm in den dunklen Wald, fern von allen Menschen, ließ ihn sich unter den Galgen setzen und sagte: „Hier bleibe sitzen. Du sitzest jetzt dicht am Wege gerade unter dem Kreuz.“ Dann ging er fort und ließ den Blinden allein.

Einsam und verlassen saß der Blinde im Walde unter dem Galgen und dachte, daß er unter dem Wegkreuz sitze. Er streckte seine Hände aus um ein Stückchen Brot, aber niemand kam, der ihn gesehen und sich über ihn erbarmt hätte. Er bemerkte auch nicht, daß es dunkel wurde und die Nacht hereinbrach, sondern saß und wartete. Gegen Mitternacht kamen drei Raben geflogen, setzten sich auf den Galgen

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Friedrich Lorentz: Aus dem Märchenschatz der Kaschubei. Fuchs & Cie., Danzig 1930, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Aus_dem_M%C3%A4rchenschatz_der_Kaschubei.djvu/33&oldid=- (Version vom 31.7.2018)