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Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46

unmittelbar noch einmal besonders eingreifen in die Gestaltung der Lebewesen, sehen sie selber eine Zuchtwahl inszenieren, die aber auf jeden Fall auch wieder sehr viel friedlichere Wege geht als der rohe Existenzkampf des Fressens und Gefressenwerdens.

Überblickt man diese ganze erdrückende Tatsachenkette, so kann man sich dem Schluß wirklich nicht gut entziehen, daß friedliche Einigung, Gemeinschaft, gegenseitige Ergänzung und Hilfe die glücklichste Erfolgsvariante des ganzen Zuchtwahlspiels der organischen Entwicklung in Darwins Sinne gewesen ist. In einer überwältigenden Weise geradezu hat sie sich als die stärkste Macht durchgesetzt, und wenn im Menschengeiste endlich die Karten des großen Spiels aufgedeckt worden sind und die Partie jetzt mit Bewußtsein weitergespielt wird, so darf es wahrlich weder wundernehmen, noch gar als Gegensatz zu dem großen Naturwerden des unteren Stockwerts erscheinen, wenn dieser Mensch auf der ganzen Linie bewußt das Ideal vollkommenen Zusammenschlusses zu einheitlich-friedlichem Kulturwirken bei sich ausspielt. Nach wie vor heiligen wir in diesem Prinzip das Nützlichste, was uns geboten ist.

Allerdings hat das Prinzip der Hilfe im Laufe der langen organischen Entwicklung bis zu uns herauf hinsichtlich seiner Anwendung selbst noch Steigerungen erfahren. Wie sollte es nicht? Diesen Zug gewahren wir doch allenthalben im Stammbaum des Lebens. So sehen wir auf niederen Stufen der Entwicklung das Prinzip zwar schon zum Nutzen der Erhaltung der Art vielfach glänzend durchgeführt, wir sehen es aber doch gleichzeitig nur erst gehalten durch starke Opfer an Individuen. Auf höheren Stufen sehen wir dagegen das Individuum als solches immer wertvoller werden, und die Hilfe nimmt sich entsprechend auch seiner immer energischer an. Wenn bei uns Menschen die christliche Idealforderung auftaucht: jeder Mensch sei als unser Bruder zu achten, so ist das nichts anderes als der höchste Ausdruck der Tatsache, daß jedes Menschenindividuum bereits einen höchsten Wert vor dem großen Prinzip darstelle. Auf das niedere, ältere Verhältnis stoßen wir dagegen noch, wenn wir die Art unseres gegenseitigen Hilfsverhältnisses etwa zu unsern Kulturpflanzen anschauen. Kein Zweifel, daß zwischen Mensch und unsern Getreidearten eine Symbiose besteht. Der Mensch braucht sie unbedingt. Die Pflanze in diesem Falle aber gedeiht in der Erhaltung und Ausbreitung aufs glänzendste seit Jahrtausenden durch den Schutz des Menschen. Diese Schutz im ganzen wird aber nur erreicht durch Preisgabe einer Masse von Individuen oder doch Individuumkeimen in den Körnern an die Bedürfnisse des Menschen. Der Mensch dezimiert die Pflanze, ersetzt und überbietet den Ausfall aber durch seine planmäßige Hegung und Aussaat, so daß im Rechnungsabschluß die Art Vorteil hat. Das Gleiche gilt von unsern schlachtbaren Haustieren und dem gehegten und besonnen nur in bestimmtem Prozentverhältnis abgeschossenen Wildbestande unserer Kulturwälder. Umgekehrt sehen wir bei gewissen Haustieren, dem Pferde und vor allen Dingen dem Hunde das Schutz- und Achtungsverhältnis aber schon ausgesprochen mit dem Werte des Individuums als solchem rechnen. Das Einzelpferd, der Einzelhund werden uns wegen ihrer individuellen Vorzüge unschätzbar. Und diese Achtung vor dem Individuum feiert dann ihren höchsten Triumph beim Menschen selbst. Artschutz und Individuenschutz werden hier eines. Was du einem Menschen tust, hast du allen getan. Durchaus aber ist auch hier die Auffassung des höchsten Menschentums nur eine einfache Steigerung innerhalb einer mindestens beim höheren Tier längst angelegten Linie. Der gewissenhafte Naturbeobachter, der nicht Theorien in die Tiere hineinsieht, sondern sich vom Gesehenen schlicht belehren läßt, muß immer wieder staunen, wie tief der auffällige Unterschied des individuellen Benehmens, der Begriff des „klugen“ oder „dummen“ Exemplars schon in die obere und mittlere Tierwelt hineinreicht. Solche Werte konnten aber nicht dauernd belanglos vor dem Vorteil auch für die Art bleiben. Es mußte sich rein im Sinne der Darwinschen Gesetze eine wachsende Tendenz durchsetzen, den großen Vorteil der gegenseitigen Hilfe vor allem zum Schutz der Individuen durchzudrücken. Jedes Verpulvern von Individuen umschloß allmählich die Gefahr, daß der beste Einzelwert mit unterging, den keine Masse eventuell ersetzen konnte.

Gerade diese „Heiligung des Individuums“ hat man freilich wieder „darwinistisch“ noch einmal besonders anfechten wollen. Der absolute Gesellschaftsschutz für jedes Individuum bei uns Menschen soll allmählich die Rasse verschlechtern, indem das ewig und wahllos hilfsbereite Mitleid auch alle Krüppel und Minusvarianten aufpäppelt und weiterzüchten hilft. Nicht Darwin, aber der eine oder andere Hyperdarwianer hat uns nahe gelegt, die Methode der alten Spartaner wieder in unsern Moralkodex

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bölsche: Daseinskampf und gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. In: Kosmos – Handweiser für Naturfreunde Bd.6, Heft 1, S. 14–16; Heft 2, S. 42–46. Franck'sche Verlagshandlung, Stuttgart 1909, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:B%C3%B6lsche_Daseinskampf_S45.pdf&oldid=- (Version vom 31.7.2018)