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Isaak von Ninive: Ausgewählte Abhandlungen des Bischofs Isaak von Ninive (Bibliothek der Kirchenväter, Band 38)

da der Mensch nicht einmal weiß, daß solche Gedanken in der menschlichen Natur auftauchen können, wer ihm dieselben gelehrt hat, wie er Dasjenige gefunden hat, was selbst Derjenige, der es erfahren hat, keinem Anderen zu beschreiben versteht, und wer ihm den Weg zu dem gezeigt hat, was er von keinem Anderen lernen konnte.

Dieses ist die Natur der Seele. Folglich sind die[1] Leidenschaften etwas durch andere Ursachen in die Seele Hinzugekommenes, da sie von Natur nicht den Leidenschaften unterworfen ist.

Wenn du aber an verschiedenen Stellen der Schrift von seelischen und körperlichen Leidenschaften liesest, so bezieht sich das nur auf jene verschiedenartigen Ursachen; denn von Natur hat die Seele keine Leidenschaften.

Aber die aussenstehenden Philosophen glauben Dieß nicht, deßgleichen auch Die nicht, welche sich in ihren Anschauungen an Jene anschließen. Wir jedoch glauben, daß Gott sein Ebenbild nicht den Leidenschaften unterworfen gemacht hat. Unter seinem Ebenbilde verstehe ich nicht den Leib, sondern die unsichtbare Seele. Denn in jedem Bilde ist eine Ähnlichkeit mit dem Urbilde ausgeprägt, aber ein sichtbares Bild kann nicht die Ähnlichkeit mit etwas Unsichtbarem darstellen.

Wir glauben also, wie gesagt, daß es keine Leidenschaften der Seele gibt. Wenn aber Jemand hierüber streiten will, so verlangen wir von ihm Antwort auf diese Frage


  1. Das syrische Wort, welches wir hier und weiterhin in Ermangelung eines bezeichnenderen deutschen Aequivalents mit „Leidenschaften“ übersetzt haben, entspricht den πάθη des Aristoteles und den passiones der Scholastiker. Es sind darunter zunächst die Regungen des niederen Strebevermögens zu verstehen oder sinnliche Begierden, Freude, Schmerz, Zorn u. dgl. Die lange, ziemlich unfruchtbare Controverse unseres Isaak gegen seelische Passionen läßt sich dadurch rechtfertigen, daß die Seele dieselben allerdings nicht aus sich hat und nur durch ihre Vereinigung mit dem Körper die dazu nothwendigen Organe erhält.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak von Ninive: Ausgewählte Abhandlungen des Bischofs Isaak von Ninive (Bibliothek der Kirchenväter, Band 38). Jos. Koese’lsche Buchhandlung, Kempten 1874, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:BKV_Erste_Ausgabe_Band_38_311.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)