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deßhalb die Stätte mit geweihtem Wasser und ließen ein steinernes Kreuz dahin setzen. Der alte Kaspar mit seiner Familie war jetzt natürlich seiner Leibeigenschaft los geworden und Gundchen blieb so lange zu Hause, bis ein wackerer junger Nachbar sie als seine Hausfrau heimführte. Noch heute sind die Reste des uralten Kreuzes und die Trümmer der Burg übrig, aber nur am Tage wagt man sich in ihre Nähe; denn wenn man Abends oder gar in der Nacht vom Glotterthale heraufkommt und den näheren Weg einschlagen will, sieht man, namentlich an hohen Festtagen, den großen Baum mit den feuersprühenden Kirschen mitten über dem Gemäuer des Schlosses.

Dr. Heinrich Schreiber.


Der Hirtenknabe am Kandel.[1]

Ein unschuldiger Hirtenknabe führte täglich an den wiesenreichen Abhängen des hohen Kandels, dessen innerste Tiefen aus einem grundlosen See bestehen sollen, der wenn er einmal herausbräche, das ganze Land unter Wasser setzen würde, das Vieh seines strengen Herren auf die Weide, und wenn er dann so von oben herab aus die Stadt Waldkirch und die spazierengehenden, schöngeputzten Bürger und ihre Frauen und Töchter sah, da ward ihm oft recht wunderlich zu Muthe. Er dachte dann gewöhnlich bei sich selbst: „Warum habe ich doch nicht auch einen reichen Mann zum Vater? Ich hätte dann nicht nöthig, mich in Lumpen zu kleiden, mit den schlechtesten Bissen mich zu begnügen, und den ganzen Tag über auf dem Berge herum zu klettern, um das Vieh zusammen zu treiben. Wie bin ich doch so elend gegen die Stadtkinder, die vor lauter Uebermuth nicht einmal wissen, wie viel sie besitzen, und oft Sachen wegwerfen, die mich ganz glücklich machen würden! Meine Eltern waren aber Bettelleute und sind gestorben; mein Herr schilt und schlägt mich unaufhörlich, und wenn ich den Tag hindurch todtmüde geworden bin, so muß ich des Nachts mit der Streu im Stalle vorlieb nehmen. Ich bin doch recht unglücklich!“

So dachte der Knabe und weinte still vor sich hin. Der böse Feind mußte aufmerksam auf ihn geworden seyn, denn er


  1. Einer der höchsten Berge des Schwarzwaldes, 3886 Fuß u. d. M. zwischen dem Elz- und dem Glotterthale.
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August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagenbuch 1. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_342.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)