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St. Ottilien

In eurem Schatten ist mir wieder leicht,
Ihr meiner Kindheit schon vertrauten Bäume!
Frisch leb’ ich auf und manche Sorge weicht,
Betret’ ich wieder diese stillen Räume;

5
Ich sitze wieder auf der alten Bank,

Vor mir die Schale Milch zum Morgentrank,
Und meinem innern Blick vorüber gleiten
Des träumerischen Knaben schönste Zeiten.

Das Glöcklein läutet aus der Waldkapell’

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Zum Himmelsfrieden aus dem Weltgewühle,

Und nieder steig’ ich zu dem Wunderquell
In des umgitterten Gewölbes Kühle;
Da wird die alte Zeit mir offenbar,
Ich wasche mir die Augen wieder klar,

15
Zurückversetzt bin ich in ferne Tage,

Lebendig wird mir dieser Berge Sage.

Fort ist jedwede Spur von Menschenhand;
Das Kirchlein ist, die Quelle mir verschwunden,
Nichts seh’ ich mehr, als eine Felsenwand,

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Ringsum nur Wald, dicht von Gesträuch durchwunden

Ich höre keinen Laut, als nur ganz weit
Den Schlag der Drossel durch die Einsamkeit,
Sonst überall ein feierliches Schweigen, –
Da rauschts und knisterts plötzlich in den Zweigen;

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Und eine holde Jungfrau stürzt hervor,

Scheu wie ein Reh und bleich wie eine Lilie,
Und knieend schreit zum Himmel sie empor:
„O Mutter Gottes, rett’, o rett’ Ottilie!
Dicht hinter mir sind die Verfolger her,

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Die wunden Füße tragen mich nicht mehr;

O rette mich vor dem verhaßten Freier
Und hülle gnädig mich in deinen Schleier!“

So ruft sie kaum, als aus des Waldes Grund
Wildjubelnd Ritter mit Gefolge dringen;

Empfohlene Zitierweise:
August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 1. Band. Karlsruhe: Kreuzbauer und Kasper, 1846, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_394.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)