Seite:Badisches Sagenbuch 400.jpg

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sich dagegen am hellen Tage sehen, verweilt oft Stunden lang, wie ein heller Lichtstreifen, mitten im Gebüsche oder in dem dunkeln Gemäuer, verschwindet plötzlich und erscheint wieder, doch thut sie keinem guten Menschen etwas zu Leide. Wer aber mit beschwertem Gewissen oder mit böser Absicht in ihre Nähe kommt, der hat gewöhnlich seine Unvorsichtigkeit sehr zu bereuen. Eh’ er es sich versieht, schlingt sich das Dorngebüsch so fest um ihn, daß er nicht mehr vorwerts kann; eine unerklärliche Angst überfällt ihn und, zerrissen an seinen Kleidern, blutend an Gesicht und Händen, eilt er zurück, oder es wird vom Thurme Mauerwerk auf ihn herabgeschüttet, und er steht in Gefahr, lebendig begraben zu werden. Früher zeigte sich das Fräulein öfter und half manchem Nothleidenden, wovon viel zu erzählen wäre; aber seit einigen Jahren hat man sie nur noch hin und wieder und wie in tiefer Betrübniß gesehen. Alte Leute meinen, sie zeige sich gar nicht mehr, wegen der Schatzgräber, welche sie so empfindlich hätte strafen müssen. Ich will darüber nicht entscheiden, denn wie könnte ich in das verborgene Herz eines solchen Geisterwesens hineinrathen? sondern nur getreu berichten, was ich gehört und gesehen habe.

Die Burg Wißneck liegt zu oberst in dem lieblichen Kirchzartner Thale. Rechts an ihr vorbei zieht die Hauptlandstraße nach Schwaben, und kein Reisender geht vorüber, ohne sich der romantischen Ruinen auf dem kleinen, mit Gras und Buschwerk überzogenen Vorhügel zu erfreuen. Rückwärts von der Burg befindet sich ein Brunnen, um welchen sich zur Mittagszeit gemeiniglich die Heerden lagern und erquicken. Dort sitzen auch die Hirten und schneiden Stäbe, oder versuchen neue Stückchen auf ihren Pfeifen. Hie und da mag wohl ein Thalmädchen dadurch angelockt und herbei gezogen werden; dem Burgfräulein aber ist dieses Getöse zuwider und sie läßt sich nach dieser Seite hin nicht blicken. Dagegen schien ein anderer Hirtenknabe ihr Liebling zu seyn, welcher sich gewöhnlich von den übrigen absonderte und in der biblischen Geschichte oder einem andern Buche blätterte und las. Anfänglich zeigte sie sich ihm aus der Ferne, lächelte, als sie den Knaben ein großes Kreuz schlagen sah, wie es ihn seine Mutter gelehrt hatte, und verschwand wieder. Nach und nach kam sie etwas näher und der Knabe legte

Empfohlene Zitierweise:
August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagenbuch 1. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_400.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)