Seite:Badisches Sagenbuch II 421.jpg

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Tiefenau.

Nahe bei der Burg Tiefenau, eine halbe Stunde vom Rhein, lag einst ein dunkler tiefer See. Auf der Burg lebte ein Ritter, der hatte eine einzige Tochter von so wunderbarer Schönheit, daß weit und breit ihr Preiß erscholl und viele Herren kamen, um sie zu werben. Eines Tages kehrte sie nicht wieder von ihrem Lieblingsspaziergange unter den Bäumen am Seegestade zurück. Der besorgte Vater eilte, sie selbst dort aufzusuchen und rief mehrmals so laut er konnte ihren Namen; da klangen ihm endlich aus dem See die Worte in klagendem Ton entgegen:

„Ach, Vater, liebster Vater!
Im See bin ich versunken,
Weil ich von seinem Wasser
Aus Unbedacht getrunken.
Nie mehr darf ich mich heben
Zum goldnen Sonnenglanz,
Hier unten muß ich leben,
Bis er vertrocknet ganz.
Ach Vater liebster Vater,
Trink ja nicht aus dem See!“

Kaum war die Stimme leise verhallt, als plötzlich ein engelholdes Knäblein vor den Ritter von Tiefenau hinhüpfte, ihm einen goldenen Becher darreichte und sang:

„Da trink’ du alter Degen,
So wird dein Töchterlein,
Die sie gefangen hegen,
Bald wieder bei dir seyn!“

Der Ritter wollte rasch den Becher an die Lippen führen, als er seinen Arm von einer fremden Hand zurückgehalten fühlte. Er wandte sich um und erblickte einen Jüngling von edler Gestalt, wiewohl in sehr bescheidener Tracht. Dieser hatte die Tochter des Ritters längst im Stillen geliebt, doch seiner Armuth wegen es nie gewagt, ihr seine Minnegluth zu gestehen. Mit den Worten:

„Trinkt nicht, mein edler Ritter!
Das Wasser ist vom See;“

Empfohlene Zitierweise:
August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 421. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_421.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)