Seite:Badisches Sagenbuch II 546.jpg

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Der Wolfsbrunnen.

Als der bei Heidelberg liegende, nun Jettenbühl genannte Hügel noch dichter Wald war, wohnte in seinen Schatten eine Seherin, Namens Jetta. Hoch und würdevoll war ihre Gestalt und in Schönheit und Anmuth der einer Unsterblichen gleich. Ein edler Jüngling aus dem Frankenvolke, zu dem der Ruf von dieser Seherin gedrungen war, faßte den Entschluß, sie aufzusuchen und sie über sein künftiges Schicksal zu befragen. Sein Herz kannte keine Furcht; als er aber nun in ihrem Haine vor ihr stand und eine Jungfrau aus Walhalla zu erblicken wähnte, gerieth er in Verwirrung und konnte vor einer Weile seine Anrede nicht vorbringen. Endlich sprach er in schüchternem Tone: „Hohe Jungfrau! Dir ist, wie mir der Ruf verkündet, die göttliche Gabe verliehen, klar in die Zukunft zu sehen; wolltest du mir nicht auch weissagen, welch ein Loos meiner wartet?“ – Jetta warf einen forschenden Blick, der aber bald in ein wohlgefälliges Lächeln überging, auf den jungen Helden und erwiederte:

„Morgen Abend, sobald sich die Sonne zum Untergange neigt, stelle dich wieder hier bei mir ein; ich will indessen die Runen über deine Zukunft befragen!“

Der Jüngling verfehlte nicht, des andern Tages pünktlich um die bestimmte Zeit im geweihten Haine zu erscheinen. Er traf die Seherin in trübe Gedanken versunken. „Was haben die Runen geantwortet?“ frug er leise. Jetta schüttelte wehmüthig das lockigte Haupt und erwiederte mit einem Seufzer: „Die Deutung ist mir nicht ganz klar geworden; allein ich fürchte, unsre Lebenssterne berühren sich.“

„Dann war’ ich ja überglücklich!“ – rief der Jüngling, ihr zu Füßen stürzend und ihre Hand ergreifend, die er mit glühenden Küssen bedeckte. – „Willst du denn dein Loos an das meinige knüpfen?“ – fragte die Jungfrau. Der Jüngling schwur ihr bei allen Göttern, fortan nur ihr allein anzugehören.

„Dann muß unser Glück vor den Augen der Menschen verborgen bleiben!“ – flüsterte mit bebenden Lippen die Seherin und bezeichnete ihm die Quelle, die nahe bei jenem Haine sprudelte,

Empfohlene Zitierweise:
August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_546.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)