Seite:Badisches Sagenbuch II 608.jpg

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Die Kapelle bei Dallau.[1]

Als die Hunnen das teutsche Land überschwemmten, lebten in dem Kloster bei Dallau zwölf junge Nonnen mit ihrer betagten Vorsteherin. Sie gehörten sämmtlich den edelsten Geschlechtern der Gegend an und waren von unsträflichem Wandel. Als die wilden Feinde sich dem Neckarthale nahten, sah man auch im Kloster nur schreckensbleiche Gesichter, denn allenthalben verübten die zuchtlosen Schaaren unerhörte Frevel. Einst verharrten die Jungfrauen bis um Mitternacht im Gebet, zum Himmel um Schutz und Rettung flehend, da vernahmen sie plötzlich ein dringendes Läuten an der Klosterpforte. Ein alter Mann mit schneeweißem Barte und von ehrwürdigem Ansehen bat um Einlaß und Nachtherberge. Freundlich nahmen die Frauen den Wanderer auf und labten ihn mit Speise und Trank. Ueber sein Antlitz war eine Hoheit und Milde ausgegossen, die jedes Herz mit Ehrfurcht und Vertrauen erfüllte. Im Laufe des Gespräches theilten ihm die frommen Schwestern auch ihre Besorgnisse wegen der Barbaren mit und baten um seinen Rath.

„Wie ihr an mir Erbarmen geübt habt,“ – sagte der Greis – „so wird Gott auch eurer sich erbarmen, denn er hört stets das Flehen der reinen Unschuld. So hört nun den Rath, den ich euch ertheilen will: Laßt alsbald dreizehn Todtensärge machen und dieselben in die Kapelle stellen. Nahen sich die Feinde diesen heiligen Mauern, so schmückt eure Häupter mit Blumenkränzen und legt euch in die Särge, als ob ihr Verstorbene wäret. Ich werde wiederkommen zu derselben Stunde, da die wilden Heereshaufen in dies Gotteshaus dringen und werde euch einsegnen.“

Die Jungfrauen thaten, wie der Greis sie geheißen. Sie ließen in Eile die dreizehn Särge zimmern und als sie das Geschrei und Gelärme der heranziehenden Hunnen vernahmen, flocht Eine der Andern einen Kranz um das Haupt und Jede legte sich im Todtengewand in ihren Sarg, die Hände über die Brust gefaltet. Auf einmal kam der Greis im kirchlichen Talare, begleitet von zwei wunderschönen Chorknaben, aus der Sakristei geschritten und verrichtete die Gebräuche, wie sie bei Beerdigungen


  1. Dorf, ein und eine Viertelstunde von Mosbach.
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August Schnezler (Hrsg.): Badisches Sagen-Buch 2. Band. Kreuzbauer und Kasper, Karlsruhe 1846, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Badisches_Sagenbuch_II_608.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)