Seite:Band II - Der Osten (Holl) 261.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

     Darauf baut sich noch ein weiteres Merkmal auf. Die Zeit verlangte sehnsüchtig nach Helfern, nach sittlichen Vorbildern und Führern. Das plötzliche Wiederaufkommen der Kyniker zu Beginn der Kaiserzeit ist ein redendes Zeugnis dafür. Daher versteht es sich, daß man jetzt dem Weisen erst recht die Pflicht auferlegte, mit seinen höheren Kräften der Menschheit, dem Nächsten zu dienen. Er soll Seelenarzt, sittlicher Halt, Retter für die andern sein[1]. Indem dieser Zug im Bild des Weisen betont wurde, kam der alte Gegensatz, ob der Herrscher oder der Weise der höchste Wohltäter der Menschheit sei, in neuer Form zur Erscheinung: der Philosoph als σωτήρ ist der heimliche Nebenbuhler des Kaisers[2]. In beiden Gestalten verkörperte sich die Sehnsucht der Zeit; im Kaiser der Wunsch nach irdischem Glück, im Weisen der Drang zum Ewigen.

     Jedoch gerade diese Steigerung des Ideals weckte sofort eine Zweifelsfrage. Wo ist ein Weiser dieser Art zu finden? Die Seltenheit des Weisen ist von jeher behauptet worden. Aber Poseidonios geht noch über die Früheren hinaus, wenn er auch den hochgefeierten Sokrates nicht zu den Vollkommenen, sondern nur zu den Fortschreitenden gerechnet wissen will[3]. Und vollends war man sich dessen bewußt – die eitle Anmaßung der Kyniker führte dies jedermann vor Augen –, daß die Uebernahme des Seelsorgeramts im Grund einen unerhörten Anspruch bedeutete. Wer Bote des Zeus an die Menschen sein will, muß von ihm gesendet sein. Andernfalls ist er ein Gottverhaßter[4]. Aber wer konnte den Mut haben, von


  1. Seneca, Ep. 41 u. 52: III 146, 10. 147, 26. Hense: nemo per se satis valet, ut emergat; oportet manum aliquis porrigat, aliquis educat... eum elige adiutorem, quem magis admireris quum videris, quam quum audieris; Philo, De somn. I §176; III 242, 19 ff. Wendland: ἔστι δ’ ἀστεῖος οὐκ ἴδιον μόνον ἀλλὰ καὶ κοινὸν ἀγαθὸν ἅπασιν, ἐξ ἑτοίμου τὴν ἀφ’ ἑαυτοῦ προτείνων ὠφέλειαν. ὡς γὰρ ἥλιος ἁπάντων ἐστὶ φῶς τῶν ὄψεις ἐχόντων οὕτω καὶ ὁ σοφὸτῶν ὅσοι λογικῆς κεκοινωνήκασι φύσεως; De sacrif. Abel §121; I 251, 3 ff. Cohn: ὅτι πᾶς σοφὸς λύτρον ἐστὶ τοῦ φαύλου ... καθάπερ ἰατρὸς τοῦ νοσοῦντος ἀντιτεταγμένος τοῖς ἀρρωστήμασι; §128; 254, 2; De migr. Abr. §121; II 291, 21 ff. Wendland; §123; II 292, 9 f.; §124; II 292, 10 ff.; Plut., De superst. 168 C; I 412, 22 Bernardakis: ὁ νουθετῶν καὶ παραμυθούμενος φιλόσοφος; Epiktet, insbesondere das berühmte Kapitel περὶ Κυνισμοῦ; Dio Prus. VIII 5; I 96, 22 ff. v. Arnim; X 1; 107, 22 ff.; LXXII. 9; II 186, 24 ff.; Philostr., Vita Apoll. III 42; 117, l ff. Kayser. – Auch der Gedanke gehört in diesen Zusammenhang, daß die Dämonen die ringenden Menschen unterstützen; Plut., De genio Socr. 593 D ff.; III 535, 8 ff. Bernardakis; Philo, De somn. I §147; III 236, 14 ff. Wendland.
  2. Dio Prus. XXXII 17 f.; I 271, 27 ff. v. Arnim: οὗτοι (d. h. die Philosophen) δὲ σωτῆρές εἰσι καὶ φύλακες τῶν οἵων τε σῴζεσθαι, vgl. ebd. 50; I 281, 24 gegen die Zurufe im Theater: σωτῆρα καὶ θεὸν καλοῦντας ἄνθρωπον ἄθλιον. – Man erinnere sich namentlich auch an Philostratus, sowohl an die Rolle, die die Brahmanen neben dem König spielen, als an die Stellung, die dem Apollonius gegenüber den guten und schlimmen Kaisern gegeben wird. Am bedeutsamsten ist die schon von Baur hervorgehobene Stelle VIII 7; 312, 6 ff. Kayser über den κόσμος, den der Weise als Werkzeug Gottes schafft.
  3. Poseidonios bei Diog. Laertius VII 91: τεκμήριον δὲ ὑπαρκτὴν εἶναι τὴν ἀρετήν φησιν ὁ Ποσειδώνιος ἐν τῷ πρώτῳ τοῦ ἠθικοῦ λόγου τὸ γενέσθαι ἐν προκοπῇ τοὺς περὶ Σωκράτη, Διογένη καὶ ᾿Αντισθένη (zum Sinn der Stelle Schmekel, Philos. der mittleren Stoa 278). Seneca, Ep. 42; III 118, 11. Hense: (virum bonum) ille... fortasse tanquam Phoenix semel anno quingentesimo nascitur.
  4. Epiktet, Περὶ κυνισμοῦ; Philo, De migr. Abr. §22; II 273, 3 ff.; Plut., Amat. 758 CE; IV 422. 423 Bernardakis; Dio Prus. I 57 f.; I 10, 28 ff. v. Arnim.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_261.png&oldid=- (Version vom 6.4.2018)