Seite:Band II - Der Osten (Holl) 262.png

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sich zu behaupten, daß er diesen göttlichen Ruf in seinem Herzen vernommen hätte? Um dies zu wagen, dazu hätte es eines ursprünglicheren Kraftgefühls bedurft, als es diese Nachfahren erfüllte.

     Hier war der Punkt, wo die Philosophie sich gedrungen fühlte, auf die Religion zurückzugreifen. Sie tat es jetzt in anderem Sinn als früher; nicht nur um sich mit ihr abzufinden, sondern um an ihr eine Stütze zu suchen. Die Religion, vor allem die Mysterienreligion, verhieß dieselben Güter, wie sie die Philosophie erstrebte, neben der Unsterblichkeit übernatürliche Erkenntnis und Gewalt über die das Dasein beherrschenden Mächte[1]; aber sie gab zugleich eben das, was der Philosoph bei sich vermißte. Sie vermittelte, wenn auch nur im Bild, eine Anschauung von jener höheren Welt, und sie gewährte vermöge ihres Offenbarungscharakters den Rückhalt an einem Feststehenden mitsamt dem daraus fließenden persönlichen Selbstgefühl. Und die Mysterienreligion kam zugleich der Philosophie auf halbem Wege entgegen, indem sie ihre sittlichen Anforderungen vertiefte[2] und ihre Anschauungen mit der „Wissenschaft“ in Einklang zu bringen suchte. So konnte beides sich aneinander anschließen: der Philosoph ging über in den Mysten[3]; der alte Name des θεῖος ἄνθρωπος wird jetzt ihnen beiden gemeinsam[4]. Männer wie Plutarch, Apollonius von Tyana und in abgeschwächtem Maß Dio von Prusa[5] stellen diese Verschmelzung von der philosophischen Seite her dar. Bei ihnen ist die Abstufung und Verbindung von kultischer und freier Mystik, die später innerhalb des Christentums so wichtig wird, bereits bestimmt vorgebildet.

     Die Uebereinstimmung dieses Ideals mit dem von Clemens aufgestellten springt in die Augen. Es handelt sich jedoch dabei nicht nur um sachliche Berührung, sondern um tatsächliche Entlehnung. Durch Philon hauptsächlich hat das von der Popularphilosophie entworfene Bild des Weisen auf Clemens gewirkt. Er hat aus ihm schon den Grundgedanken entnommen, daß es für den Menschen gälte, im Lauf


  1. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen 33 f. 88 f.; Cumont, Die orientalischen Religionen im römischen Reich, deutsch von Gehrich, allerorts.
  2. Cumont, Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum 49 ff. – Für die Uebertreibung des Sündengefühls innerhalb der Mysterienreligionen vgl. Plut., De superst.168 D; I 413, 1 ff. Bernardakis: ἔξω κάθηται (sc. ὁ δεισιδαίμων) σακκίον ἔχων καὶ περιεζωσμένος ῥάκεσι ῥυπαροῖς, πολλάκις δὲ γυμνὸς ἐν πηλῷ κυλινδούμενος ἐξαγορεύει τινὰς ἁμαρτίας αὑτοῦ καὶ πλημμελείας, ὡς τόδε φαγόντος ἢ πιόντος ἢ βαδίσαντος ὁδὸν ἣν οὐκ εἴα τὸ δαιμόνιον. Dazu Apuleius, Metamorph. XI 16: ter beatus qui vitae scilicet praecedentis innocentia fideque meruerit tam praeclarum de caelo patrocinium ut renatus quodam modo statim sacrorum obsequio desponderetur.
  3. Reitzenstein, Hellenistische Mysterienreligionen 12. Bezeichnend ist Plut., De E apud Delphos 385 B; III 3, 1 Bernardakis: οὐχ ἧττον ὁ θεὸς φιλόσοφος ἢ μάντις.
  4. Wie häufig die Bezeichnung θεῖος ἄνθρωπος für den Philosophen war, sieht man namentlich aus Dio von Prusa XXXIII 4; I 298, 14 ff. v. Arnim: δοκεῖτέ μοι πολλάκις ἀκηκοέναι θείων ἀνθρώπων, οἳ πάντα εἰδέναι φασὶ καὶ περὶ πάντων ἐρεῖν; vgl. XXXV 2; I 331, 18 ff.
  5. Dio hat wirklich jenes Bewußtsein einer göttlichen Sendung XXXII 12; I 270, 11 ff. v. Arnim; ebd. 21; 272, 30; XXXIV 4; I 317, 5 ff.; XLV 1; II 70, 25 ff. Aber es ruht bei ihm doch wohl auf der Antwort, die ihm der Gott in Delphi erteilte XIII 9; I 181, 15 ff. Daß er sich nicht selten spöttisch über das Befragen der Orakel in Kleinigkeiten äußert, spricht nicht dagegen.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_262.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)