Seite:Band II - Der Osten (Holl) 264.png

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nicht einen wirklichen Menschen zum Vorwurf nahm. Warum nicht etwa Sokrates, an dem er eben doch die Tugend rühmte, die er in seinem „Herakles“ dem Leser vor klugen stellen wollte?[1] Man kann sich zur Erklärung nicht auf das Stilgesetz berufen, das für eine bedeutende Handlung die Verlegung in die Heroenzeit verlangte. Denn Antisthenes hat kein Bedenken getragen, in dem Gegenstück, der Schilderung des idealen Herrschers, Kyros als Muster zu zeichnen. Wenn er beim Weisen nicht dasselbe wagte, so kann ihn nur die Scheu zurückgehalten haben, die volle Verwirklichung dieses höchsten Ideals einem Menschen von Fleisch und Blut zuzutrauen.

     Es scheint, dass dieses Gefühl lange nachgewirkt hat. Denn während an den Kyros sich eine beträchtliche Literatur anschloß, hat der Herakles in den nächsten Jahrhunderten, soviel man sieht, keinen Fortsetzer gefunden[2].

     Erst als das Ideal des Weisen selbst wieder neue Lebenskraft gewann, ist auch der Gedanke des Antisthenes wieder aufgenommen worden. Und zwar sind es bezeichnenderweise die Pythagoreer, die den Vorgang schufen[3]. Ihnen liegt ja die Personenverehrung im Blut. Die Vita des Pythagoras durch Apollonius von Tyana, die Rohde aus Jamblich herausgeschält hat, gibt eine Probe, wie pythagoreische Werke dieser Art angelegt waren. Die Schrift zerfällt deutlich in zwei Teile. Der erste erzählt die Bildungsgeschichte des Pythagoras, sein stetiges Emporsteigen zu übermenschlicher Weisheit: Samos, Milet, Phönikien, Aegypten, Babylonien sind die Abschnitte des Wegs. Der zweite schildert die Tätigkeit, die Pythagoras von dieser Höhe aus entfaltete, die Gründung der Schule und die Wirksamkeit im weiteren Kreis. Die göttliche Weisheit, die ihm zu Gebot stand, wird an einzelnen bezeichnenden Beispielen verdeutlicht. Das Ganze gipfelte, wie es scheint, in dem Bericht über seine Bewährung vor dem Tyrannen.

     Im Vergleich mit Antisthenes bedeutet diese Lebensbeschreibung insofern einen Schritt nach vorwärts, als sie das Ideal des Weisen im Bild eines Menschen zeigt. Ganz ist freilich der Schritt noch nicht getan. Denn die Persönlichkeit des Pythagoras steht auf der Grenze zwischen Gott und Mensch. Aber aus Lukians Satiren ersieht man[4], daß auch das Letzte, die Verherrlichung eines Zeitgenossen in dieser Form, mindestens bald nachher schon gewagt wurde. Die Fortbildung des Ideals in der Kaiserzeit, von der oben die Rede war, schuf hiefür die Grundlage. Traute man einem Menschen, den man mit Augen sah, Wunder- und Weissagungsgabe zu, so bestand auch kein Hindernis mehr, sein Werden als ein Emporsteigen vom Menschen zum Gott zu schildern.


  1. Diog. Laert. VI 11: αὐτάρκη γὰρ τὴν ἀρετὴν εἶναι πρὸς εὐδαιμονίαν, μηδενὸς προσδεομένην ὅτι μὴ Σωκρατικῆς ἰσχύος, vgl. damit den Titel des Herakles ῾Ηρακλῆς ἢ περὶ ἰσχύος (die Aenderung des Titels durch A. Müller erscheint mir nicht genügend begründet).
  2. [Vgl. aber doch die Umdeutung des Heraklesmythus Clem. Hom. VI 16; 78, 15 ff. Lagarde.]
  3. Philo gehört nicht in diese Entwicklung herein. In seinen Lebensbildern von Abraham, Moses und Joseph folgt er entweder einfach dem Gang der biblischen Erzählung oder – soweit er eine Gestaltung des Stoffs versucht – schließt er sich an das Muster des ἐγκώμιον an.
  4. Vgl. Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen 37.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Holl: Die schriftstellerische Form des griechischen Heiligenlebens. J. C. B. Mohr, Tübingen 1928, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Band_II_-_Der_Osten_(Holl)_264.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)