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da, wahrlich wie ein Symbol des evangelischen Glaubens. Ein gemauerter Pfosten mit drei Heiligenbildern in seinem Schatten sollte den Zweck haben, seine Fortbewegung zu ver­hindern. Die Linde stand auf einer Anhöhe, von der man über eine weite Lichtung blicken konnte, wo nur Wiesen, Wa­cholder und kleine Fichten zu sehen waren. Rechts lag das letzte lutherische Gehöft, während links die Ssuiten-Gesinde ihren Anfang nahmen. — Weiter gehend sahen wir mehrere grö­ßere Holzkreuze mit Heiligenbildnissen am Wege. Wo ein Gewässer war, sei es auch nur ein Graben, sollte das Bild Johannes des Täufers, des „Wasserheiligen", stehen. Manche Kreuzesstämme waren bunt bemalt und mit Verzierungen versehen. Fast um einen jeden waren Blumen gewunden, oder es war daran ein Rosenkranz für den Wanderer, der den seinen verloren haben sollte, angebracht. Die Männer entblößten vor dem Kreuze das Haupt, während sich die Frauen bekreuzigten und den Stamm küßten. — Unser nächstes Ziel war der Richtberg (l. tiessas kalns), dessen Name seine Bestimmung in alter Zeit andeutete. Dort standen nur ein Paar einsame Birken, sonst bedeckte niedriges Wacholdergestrüpp den Boden. Von diesen Birken berichtete eine Sage, die mein Führer als kleiner Knabe von einem alten Mütterchen gehört haben wollte, folgendes: „Einstmals vor vielen Jahren, als hier die Leibeigenschaft herrschte, wider­setzte sich das Volk dem Gutsherrn, der ihm Unrecht tat. Da wurden zwei Brüder ergriffen und schuldig gesprochen, das Volk aufgewiegelt zu haben. Sie mußten beide sterben, obgleich sie ganz unschuldig waren. Da sie sich sehr lieb hatten und einer den andern nicht sterben sehen wollte, baten sie, man möchte sie zu gleicher Zeit den Tod erleiden lassen. Ihrer Bitte sollte entsprochen werden. Laut weinte das auf der Richtstätte, dem „tiessas kalns", versammelte Volk, als der Henker fragte, ob nicht jemand einen Strick bei sich habe,

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Edgar Baumann: Im Gottesländchen. In Kommission bei Kluge und Ströhm [et al.], Reval [et al.] 1904, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:BaumannImGottesl%C3%A4ndchen.pdf/110&oldid=- (Version vom 20.8.2021)