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Dachbalkone gezeigt wurde, muß ich erwähnen. Sobald früher ein Glied des hier ansäßigen Geschlechts seinen Tod herannahen gefühlt, habe es auf dem Stuhle Platz nehmen müssen, um dort zu verscheiden. Also ein Familien-Sterbestuhl! Ein großer Park umgab das Schloß. Dort sollte sich eine Hauskapelle des verstorbenen Fürsten befinden. In der Grotte am verwachsenen Teiche hielten sich jetzt Schlangen und anderes Getier der Nacht auf. Selten wird, wie der Aufseher sagte, das Schloß von seinen gegenwärtigen Herren besucht. Ihre letzte Ruhestätte haben die verstorbenen Besitzer von Senten in der Kirche zu Balgaln gefunden. Der Verwalter des Gutes, ein Baron H., wohnt in einem nahen Beigute. — Bis Zehren führte der Weg durch Wald und Feld über hügeliges Land. An einer Stelle sahen wir ganze Schwärme von Zitronenfaltern. Mein Führer erzählte mir manches Interessante. Bekanntlich findet zurzeit bei uns auf dem Lande eine Verminderung der Bauerngemeinden statt, indem die kleineren den größeren angeschlossen werden. Das führe oft zu Intrigen innerhalb der Gemeindeverwaltungen. Inbezug auf die Feier des Johanniabendes sagte er, es sei früher hier zu Lande eine Lust gewesen, zu sehen, wie sich jung und alt am Lihgosingen beteiligt, seine Zimmer mit Grünwerk und Blumen geschmückt, Hof und Haus und Felder umzogen und besungen hätte, wobei bei eintretender Dunkelheit auf den Bergen Freudenfeuer aufgeleuchtet seien. Die Leute in Selgerben seien geistig recht rege, läsen gerne Bücher und Zeitschriften. Auch noch folgende Erinnerung aus einer vergangenen Zeit unserer Heimat sei hier wiedergegeben. Als in den siebziger Jahren die „Balß“ (ein lettisches Wochenblatt „Die Stimme“) zu erscheinen begonnen, hätte ein Propst sie zu einer Predigersynode als „ein vom Teufel im höchsten Grade besessenes Blatt“ gekennzeichnet; ein anderer deutscher Pastor dagegen versichert, daß er den Redakteur (Herrn A. Weber) als einen sittlich unbescholtenen

Empfohlene Zitierweise:
Edgar Baumann: Im Gottesländchen. In Kommission bei Kluge und Ströhm [et al.], Reval [et al.] 1904, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:BaumannImGottesl%C3%A4ndchen.pdf/78&oldid=- (Version vom 12.12.2020)