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Wald zu wandern, wo an einigen Stellen Vieh weidete, bis mich schließlich ein grüner, von Wacholder und Fichten begrenzter Waldespfad zum Dörfchen Usmaiten am Usmaitenschen See hinausführte.

Ich suchte den Sänger der hölzernen, auf einer kleinen Anhöhe mit Seeufer gelegenen Kirche auf und ließ mir deren Inneres zeigen. Sie stammte aus dem Jahre 1703 und war sehr baufällig, ihre Einrichtung altertümlich. An der Decke und den Wänden sah man Spuren von Ölgemälden. Lustig in Blau gekleidete, schwebende Engel bliesen Posaunen und trugen in der Hand breite Bänder mit der Aufschrift: „Heilig, heilig ist der Herr!“ in altmodischer gotischer Schrift. Das Altarbild mit der Unterschrift: „Amor meus crucifixus“[1] war primitivster Art. Der Altar und die Kanzel waren reich mit altem Holzwerk verziert. Die Kanzel schmückten die Gestalten der zwölf Apostel; Moses, die Gesetzestafeln in der Hand, trug sie mit seinem Kopfe. Unten im Gewölbe vor dem Altare wurden mir die halbvermoderten Leichname zweier unbekannter Personen, vielleicht ehemaliger Besitzer oder „Disponenten“ von Usmaiten, gezeigt. An der Seite eines riesigen Mannes ruhte eine kleine weibliche Gestatt, an der sich noch Spuren von Kleidung (Spitzen, Sei­dengaze) unterscheiden ließen. Der Sänger leuchtete mir in der dunklen Kammer mit einem Lichte. Angesichts der Leichen wurde es mir so trübe, so unangenehm zumute. Der Anblick dieser verwesten unförmlichen Körper erinnerte daran, daß alles, auch die Herrlichkeit dieser Erden, vergänglich ist und zu Moder und Staub werden muß. Mit diesem niederdrückenden Gedanken verließ ich das Grabgewölbe und die dem Einsturze nahe hölzerne Kirche. Jeden 3. Sonntag soll der Pastor aus Rönnen herüberkommen, um die Predigt zu halten. Bei der

  1. „Der am Kreuz ist meine Liebe“.
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Edgar Baumann: Im Gottesländchen. In Kommission bei Kluge und Ströhm [et al.], Reval [et al.] 1904, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:BaumannImGottesl%C3%A4ndchen.pdf/95&oldid=- (Version vom 14.2.2021)