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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737

Denn wirklich ist er zu dem Zwecke Student, daß ihm das Problem des geistigen Lebens mehr am Herzen liegt, als die Praxis der sozialen Frage. Endlich – und dies ist ein untrügliches Zeichen: es ist von jeher studentisch sozialen Arbeit keine Erneuerung des Begriffs und der Schätzung sozialer Arbeit überhaupt erwachsen. Noch immer ist der Öffentlichkeit soziale Arbeit jenes eigentümliche Gemenge von Pflicht- und Gnadenakt des Einzelnen geblieben. Studenten haben ihre geistige Notwendigkeit nicht ausprägen, und daher nie eine wahrhaft ernst gesinnte Gemeinschaft in ihr gründen können, vielmehr nur eine pflichteifrige und interessierte. Jener Tolstoische Geist, der die ungeheure Kluft zwischen dem Bürger- und Proletarierdasein aufriß, der Begriff, daß den Armen dienen eine Menschheitsaufgabe, nicht Sache des Studenten im Nebenamt sei, der hier, gerade hier alles, oder nichts forderte, jener Geist, der in den Ideen der tiefsten Anarchisten und in christlichen Klostergemeinschaften erwuchs, dieser wahrlich ernste Geist einer sozialen Arbeit, der aber der kindlichen Versuche der Einfühlung in Arbeiter- und Volkspsyche nicht bedurfte, ist in studentischen Gemeinschaften nicht erwachsen. An der Abstraktheit und Beziehungslosigkeit des Objekts scheiterte der Versuch, den Willen einer akademischen Gemeinschaft zu einer sozialen Arbeitsgemeinschaft zu organisieren. Die Totalität des Wollenden fand keinen Ausdruck, weil sein Wille in dieser Gemeinschaft nicht auf die Totalität gerichtet sein konnte.“ Die symptomatische Bedeutung der freistudentischen Versuche, der christlich-sozialen und vieler anderen ist, daß sie den Zwiespalt, den die Universität mit dem Staatsganzen bildet, mikrokosmisch innerhalb der Universität wiederholen, im Interesse ihrer Staats- und Lebenstüchtigkeit. Sie haben nahezu allen Ego- und Altruismen, jedweder Selbstverständlichkeit des großen Lebens eine Freistatt in der Universität erobert; nur dem radikalen Zweifel, der grundlegenden Kritik und dem Notwendigsten: dem völligem Neuaufbau gewidmeten Leben ist sie versagt. Es steht in diesen Dingen nicht der Fortschrittswille der freien Studenten gegen die reaktionäre Macht der Korps. Wie es zu zeigen versucht wurde und wie es zudem aus der Uniformität und Friedfertigkeit des gesamten Zustandes der Universität hervorgeht, sind die freistudentischen Organisationen selbst weit entfernt, einen durchdachten geistigen Willen auf den Plan zu führen. In keiner der Fragen, die in dem vorliegenden Versuch zur Sprache kommen, hat sich bisher ihre Stimme entscheidend bemerkbar gemacht. Aus Unentschiedenheit bleibt sie unvernehmlich. Ihre Opposition verläuft in den geebneten Bahnen der liberalen Politik, die Entwicklung ihrer sozialen Prinzipien ist auf dem Niveau der liberalen Presse stehengeblieben. Die eigentliche Frage der Universität

Empfohlene Zitierweise:
Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737. Müller, München und Berlin 1915, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Das_Leben_der_Studenten.djvu/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)