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Walter Benjamin: Das Dornröschen. In: Der Anfang. Vereinigte Zeitschriften der Jugend, H. 3/1911, S. 51–54

Ferrara sind Sitte und Anstand die strengeren Maßstäbe. Nicht die „plumpe“ Sittlichkeit. Jetzt erkennen wir – Tasso ist die Jugend. Er hütet ein Ideal – das der Schönheit. Aber da er sein jugendliches Feuer nicht bezähmen kann, da er tut, was kein Dichter tun dürfte, da er die Schranken der Sitte in seiner Liebe zur Prinzessin durchbricht, sein eigenes Ideal verletzt, so muß er sich beugen vor dem Alter, dem Convention „Sitte“ geworden ist. Das ist die Ironie seiner letzten Worte:

„So klammert sich der Schiffer endlich noch
Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte,“

daß er sich jetzt am Felsen der Convention festklammert, er, der das Ideal der Schönheit geschändet. Karl Moor scheitert, indem er seinem sittlichen, Tasso indem er seinem ästhetischen Ideal untreu wird.

Der universellste Repräsentant der Jugend ist Faust, sein ganzes Leben ist Jugend, denn nirgends ist er beschränkt, stets sieht er neue Ziele, die er verwirklichen muß; und jung ist ein Mensch, so lange er sein Ideal noch nicht völlig in die Wirklichkeit umgesetzt hat. Das ist das sichere Zeichen des Alters: im Gegebenen das Vollkommene zu sehen. Daher muß Faust sterben, daher endet seine Jugend mit dem Augenblick, da er sich am Gegebenen freuen kann und nichts mehr übrig sieht. Würde er weiter leben, so würden wir in ihm einen Antonio finden. An Faust zeigt es sich deutlich warum diese Jugend-Helden es zu „nichts bringen“ dürfen, warum sie im Augenblick der Erfüllung untergehen oder einen ewigen erfolglosen Kampf für die Ideale führen müssen.

Diese erfolglosen Kämpfer für das Ideal hat besonders in zwei ergreifenden Typen Ibsen gezeichnet: in Dr. Stockmann im „Volksfeind“ und noch stiller und ergreifender im Gregers Werle in der „Wildente“. Gregers Werle prägt besonders schön jenes eigentlich Jugendliche aus, jenen Glauben an das Ideal und jene Aufopferung, die unerschütterlich bleibt auch wenn das Ideal ein völlig unerfüllbares, ja ein unglückbringendes ist. (Denn Glück und Ideal sind oft Gegensätze.) Denn am Schluß der Wildente, als Gregers die Folgen seines fanatischen Idealismus sieht, bleibt sein Entschluß dem Ideal

Empfohlene Zitierweise:
Walter Benjamin: Das Dornröschen. In: Der Anfang. Vereinigte Zeitschriften der Jugend, H. 3/1911, S. 51–54. Berlin 1911, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Dornr%C3%B6schen.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)