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Walther Kabel: Berühmte Bücherdiebe. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 6, S. 227–231

in den Schlössern einer Revision zu unterziehen, und sagte dann, als das Fehlen von mehreren hundert Bänden festgestellt war, dem Franzosen die Diebereien in Gegenwart Voltaires auf den Kopf zu. Milvaux gebrauchte allerhand Ausflüchte, wurde aber trotzdem sofort nach der Grenze geschafft mit dem Bedeuten, er solle sich nie wieder in Preußen blicken lassen.

Durch den Gesandten Frankreichs am Berliner Hof kam die Sache auch zur Kenntnis des französischen Königs, der Milvaux in Paris verhaften und die gestohlenen Bücher, eine ganze Wagenladung, die der ungetreue Bibliothekar in seinem Pariser Heim lediglich aus Liebhaberei aufgestapelt hatte, nach Berlin zurückbringen ließ. Milvaux ertrank später, nachdem er eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren überstanden hatte, beim Baden in der Seine. Sein Testament enthielt die Bestimmung, daß seine gesamte, überaus kostbare Bibliothek der preußischen Krone zufallen solle. Jedoch wurde dieses eigentümliche Vermächtnis, durch das er seine einstigen Verfehlungen wieder gutzumachen suchte, von Berlin aus abgelehnt.

Zu derselben Zeit stand in London eine Angehörige eines alten, aber verarmten Adelsgeschlechts, die verwitwete Lady Dunston, unter der Anklage ungezählter Bücherdiebstähle vor Gericht. Lady Dunston, nur noch auf die Mildtätigkeit entfernter Verwandter angewiesen, hatte seit Jahren bei Besuchen ihrer aristokratischen Bekannten deren Privatbibliotheken aufs unverschämteste geplündert. Mit dem Verständnis der feingebildeten Frau wußte sie sehr gut die Spreu von dem Weizen zu unterscheiden: sie ließ[1] nur die seltensten und daher wertvollsten Bände mitgehen, die sie den verschiedensten Buchhändlern des Kontinents als aus dem Nachlaß ihres Gatten stammend verkaufte. Fünf Jahre betrieb sie dieses recht einträgliche Geschäft, ohne abgefaßt zu werden. Dann wurde sie von Lord R. in dessen Bibliothek dabei beobachtet, wie sie ein Buch, das mehrere Originalbriefe Maria Stuarts enthielt, in der besonders für diese Zwecke gearbeiteten Riesentasche ihres Kleiderrockes verschwinden ließ. Lord R., der schon lange dem geheimnisvollen Räuber, der seine Bücherschätze so empfindlich dezimierte, nachgespürt hatte, erstattete in der ersten


  1. Vorlage: hieß
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Walther Kabel: Berühmte Bücherdiebe. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 6, S. 227–231. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ber%C3%BChmte_B%C3%BCcherdiebe.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)