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Emil Hübner: Bildnis einer Römerin, Marmorbüste des Britischen Museums (die sogenannte Clytia)

schwerlich denken dürfen –, sicher ist, dass sie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, also in einer Zeit, welcher es an Kunsturtheil keineswegs gebrach, als ein unbezweifelt antikes Werk angesehen und als solches von einem der ersten der damaligen lebenden Kenner und Sammler gekauft worden ist. Townley hielt den Kopf in hohen Ehren; Ellis erzählt, dass er ihn bei einem Volksauflauf gegen die Papisten in London (Townley gehörte zur katholischen Gentry) im Jahre 1780 aus seinem Hause in Parkstreet nach einer schnellen Ueberschau über seine Schätze allein von allen Sculpturen eigenhändig in seinen Wagen geschleppt habe, in welchem schon die Münzen und Gemmen and andere transportable Kostbarkeiten lagen; auch habe er die Büste scherzend oft ‚sein Weib‘ genannt. Der abenteuerliche d’Hancarville, Sir William Hamilton’s Freund[1] scheint bei der von Townley ihr gegebenen Benenuung, welche seitdem die populäre geblieben ist, nicht unbetheiligt gewesen zu sein.

Zuerst durch eine mit Chevertons Copiermaschine ausgeführte verkleinerte Vervielfältigung in Elfenbeinmasse, dann durch Gipsabgüsse und Photographieen hat die Büste seit den letzten zwanzig Jahren einen hohen Grad von Popularität erlangt; an einer einiger Maßen genügenden Abbildung aber[2] und an einer wissenschaftlichen Besprechung derselben fehlt es noch durchaus[3].

Der Gesammteindruck des Kopfes ist, bei aller Schönheit, der einer gewissen Weichlichkeit und Sentimentalität; dazu kommt der höchst sonderbare und singuläre Blattkelch, aus welchem er hervorwächst. Unter dem unbestimmten Eindruck hauptsächlich dieser beiden Dinge haben seit längerer Zeit besonders Künstler ohne genaue Prüfung die Büste für ein ‚modernes‘ Werk erklärt. Allerdings ist es nicht schwer, wenn man die Begriffe ‚antik‘ und ‚modern‘ in der oberflächlichsten Weise einander gegenüberstellt, in der Auffassung und Behandlung dieses Kopfes vielerlei Dinge


  1. Vgl Justi’s Winkelmann 2, 2 S. 381 ff.
  2. Denn weder der kleine in den Büchern von Ellis und Vaux an den oben S. 1 Anm 1 angeführten Stellen gegebene Umriss in Holzschnitt, noch der etwas ausgeführtere Holzschnitt in dem neuen Buch von T. Nichols (a handy-book of the British Museum, London 1870 8., S. 297) können als solche angesehen werden
  3. Die nachfolgenden Bemerkungen sind in allem wesentlichen der hiesigen archäologischen Gesellschaft in mehreren Vorträgen am 8. Januar und 5. Februar 1867 (s. archäol. Anzeiger 25, 1867 S. 55) und am 5. März 1872 (s. archäol. Zeitung 30, 1872 S. 41) vorgelegt worden. Sie sind seitdem zum Theil auch von anderen Gelehrten gelegentlich ausgesprochen worden; ihre Darlegung an diesem Ort kann daher wenigstens nicht mehr in allen Theilen den Reiz der Neuheit beanspruchen. Doch wird hoffentlich ihre Zusammenfassung und eingehendere Begründung darum nicht unwillkommen sein. In der Kürze habe ich meine Ansicht in einer Mittheilung an den Botaniker Prof. Cohn in Breslau, welcher die Frage nach der botanischen Gattung des Blattkelches in Anregung gebracht hatte, ausgesprochen; sie findet sich gedruckt in dem Bericht über die Thätigkeit der botanischen Section der schlesischen Gesellschaft im Jahre 1866 (Breslau 1868) S. 45. Auch findet man das ungefähr Richtige jetzt bereits in dem bekannten Buch von Friederichs, Berlin’s antike Bildwerke 1 S. 505 No. 813.
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Emil Hübner: Bildnis einer Römerin, Marmorbüste des Britischen Museums (die sogenannte Clytia). Berlin: W. Hertz, 1873, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bildnis_einer_R%C3%B6merin_04.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)