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πληρωθῶσιν[1] [καὶ][2] (wenn so zu lesen ist, so ist mit „auch“ zu übersetzen) οἱ σύνδουλοι αὐτῶν καὶ οἱ ἀδελφοὶ αὐτῶν. Es ist bei der richtigen Lesart πληρωθῶσιν dieses weder mit vita defungi zu übersetzen (de W.), noch an sittliche Vollendung zu denken, sondern nach der unten anzuführenden Parallele aus IV Esra ist einfach an die Vollendung der Zahl der Märtyrer zu denken. Der Gedanke, der hier ausgesprochen ist, ist nun ein höchst charakteristischer. Er stammt aus der Gedankenwelt des Spätjudentums, in der man sich Gottes Weltregierung so darzustellen suchte, daß er alles nach Maß, Zahl und Zeit vorher genau bestimmt habe. IV Esr 4,36f.: quoniam in statera ponderavit saeculum et mensura mensuravit tempora et numero numeravit tempora et non commovebit nec excitabit, usque dum impleatur praedicta mensura. Apk. Bar 30,2: „Und es wird zu jener Zeit geschehen, auftun werden sich die Vorratskammern, in denen die Zahl der Seelen der Gerechten aufbewahrt worden ist, und sie werden herausgehen“. Mit σύνδουλοι und ἀδελφοί sind dieselben Personen gemeint; durch die Wiederholung des αὐτῶν bekommt der Ausdruck das charakteristisch Schleppende. οἱ μέλλοντες ἀποκτέννεσθαι ὡς καὶ αὐτοὶ. Der Märtyrertod der Mitknechte und Brüder der schon vorausgegangenen Märtyrer steht nahe bevor (μέλλοντες). Der Apokalyptiker erwartet ein großes und allgemeines Martyrium in nächster Zeit. In diesem sollen die Märtyrer einer vergangenen Zeit Genossen erhalten; aber nur eine kleine Weile sollen sie sich noch gedulden, die Zahl wird bald vollendet sein.

Exkurs zu 6,9-11. Bei der Beurteilung dieses für die Gesamtanschauung so ungemein wichtigen Abschnittes tun wir gut, mit den in der jüdischen Apokalyptik sich findenden Parallelen zu unsrer Stelle einzusetzen. Es heißt IV Esr 4,35: „Haben nicht darüber die Seelen der Gerechten in ihren Behältern gefragt, indem sie sprachen: wie lange (ἕως πότε) sollen wir noch hier bleiben, und wann wird die Frucht unsres Lohnes kommen? Und es antwortete ihnen der Erzengel Jeremiel und sprach: wann die Zahl derer, die euch ähnlich sind, erfüllt sein wird“. — Die Parallele ist überraschend genau, eine literarische Beziehung muß, vorhanden sein. Eine Abhängigkeit des IV Esra von der Apk ist nun aber jedenfalls nicht anzunehmen. Im Gegenteil, IV Esra zeigt aller Wahrscheinlichkeit nach die relativ ursprünglichere Form der Überlieferung, und das zu beachten, ist höchst interessant. Im IV Esra findet sich nämlich der Gedanke, der hier vorgetragen wird, in einer allgemeineren Form als in der Apk. Es ist hier von einer von Gott bestimmten Anzahl von gerechten Seelen die Rede; die Welt wird zu Grunde gehen, wenn sie diese Anzahl hervorgebracht haben wird. Dieser allgemeinere Gedanke, der übrigens auch Apk. Bar. 30,2 vorliegt, ist in der


  1. AC 29. 51 g vg. s¹ Cypr. Fulg. (Pr. fehlt); die übr. πληρωσωσιν, es liegt hier ein Hörfehler vor. πληρώσωσιν würde bedeuten bis sie ihren Lauf (Akt 20,24; II Tim 4,7) vollendet haben. Die angeführte Esra-Parallele bezeugt die Richtigkeit der Lesart πληρωθῶσιν. Sp. liest πληρώσωσιν, ergänzt aber τὸν ἀριθμόν.
  2. > Q vg. c a Cypr. Fulg. Hipp.s; es ist sehr wohl möglich, daß das καί erst später eingedrungen ist. Mit dieser Variante hängt es zusammen, daß Q Rel. (Cypr.?) nachher οι + καί" μελλοντες lesen.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Göttingen: , 1906, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S272.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)