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zahllose Menge die heidenchristliche Gemeinde, die aus allen Gegenden gesammelt, nun ihrem Herrn entgegen ziehe. Der Herausgeber habe in der zweiten Hälfte des Kapitels stark eingegriffen und aus der versammelten Gemeinde Märtyrer gemacht, aus der auf Erden zu denkenden Szene eine himmlische. Ich stimme mit W. überein in der Behauptung der relativen Einheit des Kapitels und seiner Zugehörigkeit zu Kap. 1-6 (resp. dem Ganzen der Apokalypse). Ich vermag aber keinen zwingenden Grund zu finden, hinter dem vorliegenden Zusammenhang einen vollständig andern zu postulieren, der aus der uns vorliegenden Bearbeitung sich überhaupt kaum mehr erkennen läßt. W.s Hypothese hat das Bestechende, daß nach ihr sich in reinlicher Sonderung die Schar der Judenchristen und der Heidenchristen gegenübertritt. Aber es kommt doch auch dann ein Gegensatz heraus, wenn man annimmt, in V. 1-8 schildre der Apok. die besonderen Günstlinge Gottes aus Israel, die in den letzten Nöten der Antichristzeit sich bekehren und wunderbar errettet werden sollen, und in V. 9ff. lasse er dann die Heroen der christlichen Gemeinde, die Märtyrer, als Gegenstück erscheinen. Der Gegensatz ist freilich einigermaßen künstlich; aber das wird erklärlich, wenn wir annehmen dürfen, daß der Apok. in 7,1-8 eine überkommene Tradition verarbeitet. Wenn aber der Apok. einmal die Märtyrer in ihrer Gesamtheit als Gegenstück zu den 144 000, dem bekehrten Rest Israel, einführen wollte, so mußte er die Szenerie ganz in die Zukunft und in den Himmel verlegen. Wenn endlich W. zum Beweis seiner Hypothese darauf hinweist, daß die weißgekleidete Schar in V. 14 gar nicht durchgängig als eine Schar von Märtyrern geschildert werde, so ist darüber das Nötige im Kommentar gesagt.

Jedenfalls gehört die zweite Hälfte des siebenten Kapitels zu den Höhepunkten der ganzen Apk. Hat der Apok. in der ersten Hälfte in fremder Manier gemalt, so ist er hier wieder ganz er selbst. Nach dem Sturm und Drang und dem wilden Wechsel der Erscheinungen in Kap. 6 zeichnet er hier ein Bild von einer wundervollen Ruhe und einer ergreifenden Schönheit und Verklärung. Eine starke Massenwirkung wird aufgeboten. Ungezählte Scharen nahen sich Gottes Thron, und alle Engel umstehen ihn und stimmen den brausenden Lobgesang an. Und über das alles ist die große Ruhe ausgebreitet: Alle in weißen Kleidern und Palmzweigen in der Hand! Und dahinten liegt die Zeit der großen Trübsal! Die letzten Töne des Kampfes verhallen so eben, noch zittert der Schmerz und die Klage nach, aber Gott trocknet alle Thränen, und der Blick schweift über schattige Gefilde und grüne Auen und rinnende Quellen. — An diesem Bilde ist die nordische Malerei zum Bewußtsein ihrer Kraft und ihres Könnens erwacht.

8,1. Das siebente Siegel. καὶ ὅτε[1] ἤνοιξεν τὴν σϕραγῖδα τὴν ἑβδόμην, ἐγένετο σιγὴ ἐν τῷ οὐρανῷ ὡς ἡμίωρον[2] (ὤριον). Eine gewisse Parallele bietet Da 4,16, wo berichtet wird, daß Daniel, nachdem er den Traum Nebukadnezars gehört, eine ganze Weile (LXX, Theod. ὥραν μίαν) vor Entsetzen verstummt sei. Sehr lebendig schildert namentlich die LXX die Szene erweiternd, den ekstatischen Starrkrampf des Sehers. Was bei Da als subjektives Erlebnis des Sehers geschildert wird, ist hier gleichsam objektiviert. Das Stillschweigen im Himmel drückt die bange Erwartung des Kommenden aus. Die Bestimmung ὡς ἡμίωρον soll die erdrückende Schwüle und Länge dieser angstvollen Stille ausmalen. Das Schweigen ist


  1. Auf die Autorität von AC darf man nicht ὅταν in den Text nehmen, da ὅταν in der Apk immer mit dem Konj. steht.
  2. AC ημιωρον.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. , Göttingen 1906, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S290.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)