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Sterne vom Himmel, die Flucht des Weibes in die Wüste, die Flügel des großen Adlers, der stromspeiende Drache, die den Strom verschlingende Erde, diese ganze Fülle von grotesken Bildern, die uns von vornherein den Gedanken nahelegt, daß wir uns hier auf dem Boden des Mythus befinden. Aber es sind noch stärkere Beweise vorhanden. Es ist mit Recht hervorgehoben, daß kein Christ aus eignen Stücken, so wie es hier geschehen ist, das Leben seines Herrn gezeichnet haben würde: Ein Kind, das vom Drachen verfolgt und zu Gottes Thron entrückt wird! Wo bleibt hier das irdische Leben und wo das Kreuz? Und mit der Darstellung von der Entrückung des Kindes hängt der andere Zug zusammen, daß nicht der Herr selbst, sondern Michael mit dem den Himmel stürmenden Drachen kämpft. Das wäre bei einer in der Wurzel christlichen Offenbarung ebenfalls undenkbar. Wie hätte ferner irgend ein Christ darauf kommen können, die Mutter Jesu in der Gestalt des Sonnenweibes zu zeichnen! Und wenn man sagt, diese Mutter sei das ideale Israel, aus dem der Messias stamme, so ist mit jener Annahme das Bild noch immer nicht erklärt. — Was hat jenes Sonnenweib und seine Embleme — etwa abgesehen von dem Kranz mit den zwölf Sternen — mit dem idealen Israel zu tun! Und was für eine merkwürdige Inkonzinnität ergibt sich, wenn das Weib erst die Mutter des Messias, Idealisrael ist und nachher — wie es doch kaum anders gedeutet werden kann — die von Jesus gestiftete Gemeinde der Gläubigen!

3. Seitdem Vischer (und etwa gleichzeitig Weyland) mit allem Nachdruck diese Schwierigkeiten zu Gunsten der Annahme eines jüdischen Ursprungs dieses Kapitels hervorgehoben hat, sind ihm eine ganze Reihe von Forschern hierin gefolgt. Neuerdings hat auch Wellhausen[1] (vgl. Skizzen und Vorarbeiten VI 215ff.) sich mit aller Entschiedenheit auf Vischers Seite gestellt — auch gegenüber Weizsäckers (apost. Zeitalter 1892, S. 358) Bedenken (218f.). Auch J. Weiß plädiert wenigstens für den größten Teil des Kapitels für jüdischen Ursprung und will nur 12,7-12 dem christlichen Urapokalyptiker belassen. Man urteilt hier wesentlich nach dem Grundsatz, daß, was in der Apok. nicht christlich sei, jüdisch sein müsse, ohne andre Eventualitäten in Betracht zu ziehen. Es fragt sich nun aber doch sehr, ob man Kap. 12 unter der Voraussetzung jüdischer Abstammung irgendwie besser versteht oder auch nur ebenso gut verstehen kann.

Einen solchen Versuch, unsre Weissagung aus jüdischen Prämissen zu begreifen, hat Vischer nun tatsächlich gemacht. Er glaubte, eine parallele im Jerusal. Talmud, Berachoth II 5a (Lightfoot zu Mt 2,1), gefunden zu haben (vgl. Midrasch Echa Rabbathi I,16; Vlt. IV 75). Dort wird erzählt: Zu einem Juden sei ein Araber gekommen und habe ihm zugleich mit der Nachricht von der Zerstörung Jerusalems die von der Geburt des Messias Menachem, des Sohnes des Hiskia, in Betlehem gebracht. Danach sei der Jude nach Betlehem aufgebrochen und habe die Mutter des Messias gesehen. Als er


  1. Vgl. gegen Wellhausen Gunkel, aus Wellhausens neuesten apokal. Forschungen, ZwTH 42,581-611.
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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1906, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S347.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)