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und Hera bewirkte, daß sie nur wo die Sonne nicht scheine, gebären könne. Als Python merkt, daß Leto gebären werde, fängt er an, sie zu verfolgen, um sie zu töten. Aber Boreas trägt die Leto zum Poseidon. Dieser bringt sie nach Ortygia und bedeckt die Insel mit den Wogen des Meeres. Als Pytho die Leto nicht findet, kehrt er zum Parnaß zurück. Auf der von Poseidon wieder erhobenen Insel gebiert Leto. Am vierten Tage nach der Geburt nimmt Apollo Rache, er eilt zum Parnaß und tötet den Pytho. — Nun hat man gerade aus den Gegenden, aus denen die Apk stammt aus Milet, Tripolis in Karien, Magnesia am Maeander, Münzen, welche die fliehende Leto darstellen. Eine Münze aus Hadrians Zeit trägt die Inschrift Εφεσιων Λητω. Pythische Spiele, in denen dieser Sagenkreis dargestellt wurde, lassen sich für jene Zeit in Milet, Magnesia, Tripolis nachweisen. Es läßt sich sogar wahrscheinlich machen, daß eine Erzgruppe, Leto mit Apollo und Artemis auf dem Arm, vor dem Drachen fliehend, in Ephesus gestanden hat, auf welche jene Münztypen zurückzuführen sind. Das alles scheint zu der Annahme Dieterichs zu drängen, daß in Apk 12 ein Apollomythus enthalten sei.

Die Übereinstimmungen zwischen Apk 12 und jenem Mythus sind allerdings frappant. Selbst geringfügige Züge wie der, daß dem Weibe Adlersflügel gegeben werden (vgl. oben Leto vom Boreas getragen), finden ihre Parallele. Allerdings sind auch die Differenzen bedeutend. Die Flucht des Weibes wird in letzterem nicht vor, sondern nach der Geburt des Sohnes erzählt; das Wasser ist hier eine wohltätige rettende, in der Apk eine verderbliche Macht; dort wird die Insel vom Wasser verschlungen, hier verschlingt die Erde das Wasser. Dort führt das Kind selbst mit dem Drachen Krieg, hier tritt zunächst Michael für dasselbe ein. Aber die großen Züge: das Weib, das Kind, der verfolgende Drache und eine Reihe charakteristischer Einzelzüge kehren in beiden Erzählungen wieder.

Gegen Dieterich ist (von Gunkel) eingewandt, daß ein apokalyptisches Bild in der Weise, wie D. es sich vorstellt, von einem jüdischen oder christlichen Apokalyptiker niemals übernommen sein könne. Denn der Apok. müßte dann mit klarem Bewußtsein einen heidnischen Mythus umgedeutet haben, und diese Annahme sei unmöglich. Es sei vielmehr a priori zu behaupten, daß ein Apokalyptiker niemals in solcher Weise erfinde und seinen Stoff zurechtschneide. Wie hätte er dann den Mut haben sollen, seine Erfindungen als göttliche Offenbarungen auszugeben? Noch dazu sei eine Herübernahme eines heidnischen Mythus von Seiten eines Juden oder Christen undenkbar. Vielmehr lägen hier uralte Zusammenhänge vor; solche Herübernahme von Ideen aus einer Religion in die andre vollzögen sich nicht im Sturm und im Lauf einer Generation, es sei das ein Vorgang, der mehr im Unbewußten und im Laufe von Jahrhunderten vor sich ginge. — Ich glaube nicht, daß Gunkels Bedenken zutreffen. Solche Herübernahme von Mythen, Erzählungen, Sagen und Symbolen, Lehren und Vorschriften von einer Religion in die andre, gehören doch zu den allergewöhnlichsten geschichtlichen Vorgängen. Durch nichts kann wirkungsvoller für eine neue Religion Propaganda gemacht

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Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1906, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S353.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)